Wir haben hier in Katalonien immer wieder über Initiativen nachgedacht, die darauf abzielten, das durch kulturelle oder strukturelle Einwirkungen gewaltsam zerstörte soziale Geflecht zu reparieren, mochte es sich dabei um weit zurückliegende Gewalterfahrungen wie z. B. den Spanischen Bürgerkrieg (1936 – 1939) und die Franco-Diktatur (1939 – 1975) handeln oder aber den Bürgerkrieg in Ruanda (1990 – 1994) sowie systematische Völkermorde, die in unserer Zeit (1990 – 2000) stattfanden¹: Die Schatten dieser gewaltsamen Auseinandersetzungen und die individuellen und kollektiven Traumata wirken weiter – manchmal sichtbar, doch manchmal auch nicht wahrnehmbar – über bis zu vier Generationen hinweg², jenseits der Menschen, die sie konkret durchlebt und durchlitten haben.
Unsichtbare Traumata
Bei einigen Auftritten im Rahmen der AUDIENCIAS MEMORIALES in Katalonien kamen – neben vielen anderen – auch Situationen im Zusammenhang mit Verbrechen großen Stils aus der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs und der Diktatur zur Sprache, Repressionen gegenüber der Bevölkerung, der Gebrauch von stigmatisierenden Bezeichnungen (wie „rojos-separatistas“ – „Rotspanier/Separatisten“), die Unterdrückung der katalanischen Institutionen im Bereich der Legislative, der Regierung und der Jurisdiktion, die Verfolgung und Exilierung von Teilen der katalanischen, baskischen und spanischen Bevölkerung und ihrer Regierungen, die Hinrichtung des demokratisch gewählten katalanischen Präsidenten Lluis Companys³, das Verbot der katalanischen Sprache.
Während der Periode der „Transición“ (des Übergangs zur Demokratie nach Francos Tod) entschied man sich für eine generelle Amnesie, d. h. des Vergessens aller Gewalttaten der Vergangenheit (einschließlich der oben benannten); man schlug die nachfolgende Seite auf, ohne dass die vorhergehende geschrieben, geschweige denn gelesen wurde. Von den Siebziger Jahren bis zu den Zweitausendern verblieben individuelle und kollektive Traumata zu großen Teilen im Verborgenen.
Dann gab es vorsichtige Vorstöße in Richtung auf ein Recht auf Erinnerung, auf Wiedergutmachung und Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.
Schatten der Vergangenheit
Insbesondere ab den Zweitausender Jahren tauchten manche der Gespenster aus der Vergangenheit wieder auf und traten, vor allem im Jahre 2010, in Form eines politischen Konflikts zu Tage. Ein Verfassungsgericht, dem viele Amtsträger mit abgelaufenem Mandat angehörten, sprach ein Urteil, das den weit vorangeschrittenen Prozess der katalanischen Volkssouveränität⁴ stoppte und seinem Schiedsspruch unterwarf. Es verschärfte damit einen politischen Konflikt, der von manchen Amtsträgern nicht als solcher anerkannt wurde.
Im folgenden Jahrzehnt, in dem der fehlende Wille zum Dialog auf Seiten der spanischen Regierung gegenüber den Vorschlägen und Petitionen der katalanischen Regierung, des Parlaments und verschiedener Sektoren der Zivilgesellschaft offensichtlich wurde, trat der Konflikt wiederum deutlich hervor. Die katalanische Regierung beschloss, eine nicht bindende Befragung über verschiedene Varianten der Beziehung zwischen Spanien und Katalonien (einschließlich eines föderativen Systems) durchzuführen (2014) und anschließend ein Referendum über die katalanische Selbstbestimmung (2017). Keiner dieser Verfahrenswege wurde von der spanischen Regierung oder Justiz zugelassen.
Unter Missachtung des Verbots rief die katalanische Regierung zu dem Referendum auf und wurde auf das Schärfste von der spanischen Polizei sanktioniert. Diese ging gewalttätig, unter Verletzung der fundamentalsten Menschenrechte, gegen eine Bevölkerung vor, die mindestens vier Generationen umfasste und friedlich von ihrem Wahlrecht Gebrauch machte. Der politische Konflikt verschärfte sich, Menschen kamen zu Schaden, es wurden Gerichtsurteile mit extrem harten Gefängnisstrafen gegen die katalanische Parlamentspräsidentin, die Vizepräsidentin und verschiedene Minister ausgesprochen; der Präsident und verschiedene Mitglieder der katalanischen Regierung gingen ins Exil…..und wieder nur Schweigen und die Unfähigkeit zum Dialog angesichts dieses erneuten individuellen und kollektiven Traumas.
«ÉSSER EN PAU / SER EN PAZ / BEING IN PEACE»
Mit Blick auf die Verschärfung des politischen Konflikts, das Ausmaß der Brüche im sozialen Zusammenleben, die wachsenden Polarisierung und das Wiedererstarken individueller und kollektiver Ressentiments – einschließlich der historisch bedingten – haben wir, vier Organisationen⁵, die Initiative „ESSER EN PAU/SER EN PAZ/BEING IN PEACE/IN FRIEDEN LEBEN“ (Eep!) gegründet. Sie soll helfen, Gespräche auf unterschiedlichen Ebenen in Gang zu bringen, Raum und Zeit schaffen, um tiefreichende Erfahrungen im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen und politischen Situation Katalonien-Spanien nach innen und nach außen zu bearbeiten.
An jeder Sitzung von Eep! nehmen 20 bis 25 Personen unterschiedlichster Herkunft, Weltanschauung, Identität, Alter und Geschlecht und weiterer Existenzformen teil, die die Vielfalt der katalanischen und spanischen Gesellschaft widerspiegeln, inklusive der Spanier anderer Nationalität, die in Katalonien leben.
Eep! setzt vorrangig auf das Ausdrücken von Gefühlen und existentiellen Erfahrungen, die mit dem Konflikt zu tun haben, jenseits von politischen Ideen und gemäß den Prinzipien der gewaltfreien Kommunikation, als eine Möglichkeit, Licht in die individuellen und kollektiven Schattenwelten zu bringen, eine Welle von Mitgefühl entstehen zu lassen und Harmonie sinnlich fassbar zu machen. Es geht darum, so etwas wie eine Verwandlung zu möglich zu machen: auf der Grundlage von respektvollem Verhalten und aufmerksamem Zuhören gelangt man von der Intelligenz in all‘ ihren Erscheinungsformen zu einer höheren Ebene des (individuellen oder kollektiven) Bewusstseins.
Bei den Sitzungen von Eep! verwenden wir eine bestimmte eigene Methode, die sich in drei Phasen entfaltet. Die Teilnehmer*innen hören Erfahrungen aus dem letzten Jahrzehnt, die mit der Wahrnehmung von Unterdrückung, Angst, Ohnmacht, Trauer, Empörung, der Anzeige durch Nachbarn, stigmatisierenden Bezeichnungen verbunden sind, aber auch mit Hoffnung, Begeisterung, mit Gruppensynergien. Einige dieser Erlebnisse verbinden sich mit intergenerationellen Traumata, die in der Gegenwart sichtbar werden; einige Teilnehmer*innen stellen eine direkte Beziehung zu Erfahrungen oder Empfindungen her, die sie mit ihren Eltern, Großeltern oder sogar Urgroßeltern während des Bürgerkriegs oder der Diktatur verbinden.
Nach unserer Auffassung ist es wichtig oder hilfreich, dass solche verborgenen, verheimlichten oder subversiven Berichte (unterhalb der offiziellen Version des Konflikts) ans Licht kommen. Dass sie geteilt und ausgesprochen werden, damit persönliche, kulturelle und strukturelle Bedingungen für ein harmonisches Zusammenleben entstehen.
Eine gemeinsame Vision
Eep! ist keine Therapie und stellt keine politische Agenda dar; es ist auch keine Konfliktmediation und auch keine Fortbildung; es ist eine Initiative der „Mehrsprachigkeit“ (ein Dialog auf mehreren Ebenen und keineswegs nur auf der Ebene von Ideen), die das Potential von individuellen und kollektiven Veränderungen in sich birgt. Indem sie die Wiederherstellung des zerstörten sozialen Geflechts ermöglicht, ist sie darauf aus, positive Veränderungen in der „Polis“ anzubieten (dem öffentlichen Raum, der uns alle betrifft), in diesem besonderen Fall Katalonien/Spanien; ausgehend von dem, was wir miteinander geteilt haben, entwickeln wir eine gemeinsame Vision.
So verbünden wir uns mit den Initiativen, die an der Erinnerung arbeiten – sei es die offizielle, die ausdrücklich formulierte, die verborgene, die verhehlte ebenso wie die stillschweigende, sowohl auf der individuellen wie der kollektiven Ebene. Es geht uns um eine die Schäden heilende Gegenwart und eine in sich kohärentere Zukunft, in der Konflikte friedlich und konstruktiv bearbeitet werden.
Jordi Palou-Loverdos⁶
Übersetzung: Barbara Brix
[1] Siehe AUDIENCIAS MEMORIALES IN KATALONIEN, Reflections-Blog – Family History affected by Nazi Crimes (2017), https://reflections.news/de/audiencias-memoriales-in-katalonien-erinnerungsarbeit-auf-katalanisch/
[2] Siehe 1ª, 2º 3ª Y 4ª GENERACIÓN REPARANDO CONJUNTAMENTE EL TEJIDO SOCIAL DAÑADO, (auf Spanisch), Reflections-Blog – Family History affected by Nazi Crimes (2019), https://reflections.news/es/1a-2o-3a-y-4a-generacion-reparando-conjuntamente-el-tejido-social-danado/.
[3] 1940 Hinrichtung des Präsidenten der katalanischen Regierung nach einem kurzen summarischen Prozess ohne Verteidigung, nachdem er in Frankreich von der Gestapo verhaftet und von den französischen Behörden ohne Auslieferungsverfahren direkt an Franco übergeben worden war.
[4] Wir sprechen hier von dem Abstimmungsprozess zu einem neuen Statut für Katalonien im Parlament von Katalonien (1. Stufe), Abstimmung im spanischen Parlament (2. Stufe) und Abstimmung durch ein Referendum der katalanischen Bevölkerung (3. Stufe)
[5] Fundación Carta de la Paz dirigida a la ONU( Stiftung „Ein Friedensbrief an die UNO“); Novact-Instituto Internacional para la no violencia activa (Novact-Internationales Institut für aktive Gewaltfreiheit), Casa de l’Esser (Haus des Seins) und Stiftung Ficat.
[6] Jordi Palou Loverdos ist Mediator und nationaler und internationaler Berater für friedliche Konfliktlösung; Moderator des Innerruandesischen Dialogs; Moderator der Audiencias Memoriales in Katalonien; Moderator von „Esser EN PAU/SER EN PAZ/BEING IN PEACE/IN FRIEDEN LEBEN“. Er ist Direktor und Mitglied des Kuratoriums der Stiftung „Ein Friedensbrief an die UNO“; Vizepräsident von Novact- Internationales Institut für gewaltfreie Aktion; Vizepräsident der Casa de l’Esser; Vizepräsident der Stiftung Ficat