Es hat ein paar Tage gedauert, alle Eindrücke unserer Reise nach Neuengamme zu verarbeiten. So viele Eindrücke und besondere Momente. – Zuerst dachte ich, die Bezeichnung ‚Verbundenheit‘ beziehe sich darauf, sich an den Plakatwänden zu treffen und dort gemeinsam aktiv zu sein. Aber die Bedeutung geht noch viel tiefer, wenn man bedenkt, dass sich eine Hinterbliebene durch die Gestaltung eines Plakats gesehen und gehört fühlt und somit auch Anerkennung für die Trauer erhält, die sie selbst erlitten hat. Ich habe das starke Gefühl, dass dies helfen wird, einen Schritt auf dem Weg zur ‚Heilung‘ zu gehen. Außerdem habe ich auch so viele wunderbare Begegnungen mit mir unbekannten Menschen rund um das Plakatprojekt. Das macht mein Leben so viel reicher.
Eine Teilnehmerin
Auch in diesem Jahr reisten wieder zahlreiche Angehörige nach Neuengamme, um im Rahmen der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag der Befreiung am 2. Mai 2023 am Ort der Verbundenheit Plakate zu drucken und sie vor Ort zu plakatieren.
Der Ort der Verbundenheit wächst immer weiter. In diesem Jahr kamen 31 neue Druckplatten hinzu. Erstmals reichten die Regale vor dem Plattenhaus der KZ-Gedenkstätte Neuengamme nicht mehr aus – um alle Druckplatten im Außengelände der Gedenkstätte präsentieren zu können, mussten Regalebenen ergänzt werden.
Seit November 2020 ist der Ort der Verbundenheit als Gedenkort von und für Angehörige von ehemaligen Häftlingen des KZ-Neuengamme für die Öffentlichkeit zugänglich. Der Ort der Verbundenheit ist aus dem Wunsch heraus entstanden, einen Ort zu schaffen, an dem Angehörige aus aller Welt ihr im KZ-Neuengamme inhaftiertes Familienmitglied namentlich ehren und ihre persönliche Verbundenheit mit ihm am historischen Ort seines Leidens zum Ausdruck bringen zu können. Der Gedenkort wurde als wachsendes Archiv und für eine aktive Teilnahme der Angehörigen und Besucher:innen konzipiert. Angehörige von ehemaligen Häftlingen des KZ-Neuengamme haben die Möglichkeit, ein Plakat über ihr inhaftiertes Familienmitglied zu gestalten. Hieraus werden Druckplatten erstellt, die am Ort der Verbundenheit in Archivregalen verwahrt werden. In der Druckwerkstatt vor Ort auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Neuengamme können Besucher:innen die Plakate schließlich vervielfältigen und an den Plakatwänden aufhängen.
Über 130 Teilnehmende verfolgten die diesjährige Veranstaltung am Ort der Verbundenheit. Aufgrund des kalten Wetters fand die Posterpräsentation diesmal nicht im Außengelände, sondern im Klinkerwerk statt.
Drei Angehörige stellten ihre Poster und die Geschichten ihrer Familien vor. Riet Schuit aus den Niederlanden teilte die von Karin van Steeg vorgetragene Geschichte ihres Vaters Hendrikus Schipper, der im Oktober 1944 noch vor ihrer Geburt im Zuge einer Vergeltungsaktion der deutschen Wehrmacht aus dem niederländischen Putten in das KZ verschleppt worden war und wenige Wochen später in einem Außenlager starb, als er gerade einmal 21 Jahre alt war. Über ihn durfte in der Familie nicht gesprochen werden und das Schweigen überschattete Riets Kindheit.
Auf ihr Plakat schrieb sie:
„Keine ‚Hinterbliebene‘. Nie genannt, nirgends erwähnt. Und dann, 70 Jahre später, steht es da, schwarz auf weiß. Aus Drikus‘ Beziehung mit Martha van Galen wurde am 27. Mai 1945 eine Tochter geboren. ICH EXISTIERE UND DARF SEIN!“
Janina Martynow reiste trotz schwierigster Umstände mit ihrer Mutter und ihrem Sohn aus der Ukraine zur Posterpräsentation nach Neuengamme. Sie stellte ihr Poster für ihren Großvater Mykola Awdeenkow vor, der die KZ-Haft überlebte. Von der Entschädigungszahlung, die er schließlich erhielt, kaufte er ihr und ihrer Schwester ihren ersten Computer. „Hier möchte ich einfach sagen, dass ich ihn sehr liebe“, schrieb sie auf ihr Plakat.
Mykola Titow berichtete von der Geschichte seines Onkels, der die Haft im KZ Neuengamme nicht überlebte, aber auch von den Auswirkungen des aktuellen Kriegs in der Ukraine auf sein Leben, vor dem er mit seiner Familie fliehen musste.
Die vollständigen Reden können auf der Website der KZ-Gedenkstätte Neuengamme unter 78. Jahrestag der Befreiung nachgelesen werden.
Im Anschluss an die Reden verlasen mehr als 40 Angehörige die Namen ihrer verfolgten Familienmitglieder. Danach ging es nach draußen zu den Posterwänden zum gemeinsamen plakatieren.
Herzlichen Dank an alle Angehörigen, die mit dabei waren und auch an alle anderen, die zu der Veranstaltung beigetragen haben!