Zuhören – Anerkennen – Traumata bewältigen
Erinnerungsarbeit besteht nicht nur darin, sich historische Fakten ins Gedächtnis zu rufen, sondern vor allem darin, sich Vergangenes bewusst zu machen und es präsent werden zu lassen. Wir sind entschlossen, die Ereignisse der Vergangenheit anzuerkennen und zu verstehen, selbst wenn sie uns zerstört und getrennt haben. Unser Ziel ist es, uns auf harmonische Weise in die Gegenwart einzufügen, uns und die Generationen, die nach uns kommen – und sei es bis ins siebente Glied.“
Jordi Palou Loverdos, Direktor des Memorial Democràtic/Barcelona (2011 bis 2016), März 2012
Bedingungen für einen europäischen Erinnerungsrahmen
Der (Spanische) Bürgerkrieg und die (Franco-)Diktatur haben tiefe Spuren in den Menschen sowie in den Gremien und Institutionen Spaniens und vor allem Kataloniens hinterlassen. Ihre Nachwirkungen sind noch in der Gegenwart und – in unterschiedlicher Intensität – über mindestens drei Generationen hinweg zu spüren. Hunderttausende von Menschen, nicht nur in Spanien, sondern in vielen europäischen Ländern, waren davon betroffen.
Jetzt da ich diesen Artikel schreibe – am Ende des Jahres 2016 – gedenken wir dieses Bürgerkriegs, der vor 80 Jahren ausbrach, ausgelöst durch einen Militärputsch am 18. Juli 1936. Damals fand ein umfassender Prozess des politischen, gesellschaftlichen und demokratischen Wandels sein jähes Ende.
Dieser hatte mit den Kommunalwahlen vom 12. April 1932 begonnen und die Anerkennung vielfältiger Freiheiten auf der individuellen, der institutionellen und der vereinsrechtlichen Ebene mit sich gebracht. Seinen Höhepunkt erreichte er mit dem katalanischen Souveränitätsstatut von 1932 (Statut von Nuria) und der Schubkraft einer neuen Regierung in Katalonien.
Der Spanische Bürgerkrieg (1936 bis 1939), von dem hier die Rede ist, hatte weitreichende und vielfältige Wirkungen:
– international: die systematische Bombardierung der Zivilbevölkerung durch die deutsche und italienische Luftwaffe einerseits und zum anderen die Anwesenheit internationaler Brigadisten aus mehr als 50 Ländern, um nur zwei Beispiele zu nennen
– dazu mehr als eine Million Tote unterschiedlichster Überzeugungen und sozialer, kultureller wie geographischer Herkunft
– Hunderttausende von Verwundeten
– unermessliche Schäden an der Infrastruktur sowie öffentlichem und privatem Eigentum
– mehr als eine halbe Million ins Exil gezwungener Menschen (nach Europa, Nordafrika, in die Sowjetunion, in zahlreiche Staaten Lateinamerikas, insbesondere Mexiko)
– mehr als zehntausend Verschollene
– Tausende von Opfern in den französischen Internierungslagern oder den nationalsozialistischen Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern
– eine gnadenlosen Unterdrückungspolitik unter einer fast vierzigjährigen Militärdiktatur mit illegalen Hinrichtungen, erzwungenem Untertauchen, Folter im großen Stil, Gefängnis und Internierungslagern, Zwangsarbeit, gewaltsam zerstörten Dörfer, Familien, Individuen.
Bekanntlich fiel das Ende des Spanischen Bürgerkriegs mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs zusammen, der seinerseits Europa verwüstete und viele Länder der Erde in seinen Sog riss. In ganz Europa ist dies Teil unterschiedlicher und vielfältiger Erinnerungen, die zur Kenntnis zu nehmen, zu akzeptieren, anzuhören und weiter zu geben wir verpflichtet sind
Was tun wir, um die Schatten der Vergangenheit anzunehmen?
In der letzten Zeit sind auf Seiten der Zivilgesellschaft wie der Institutionen, die mit der Erforschung und Bearbeitung der Ursachen, Wirkungen und Folgen bewaffneter Konflikte im Innern wie auf internationaler Ebene beschäftigt sind, vielfältige Initiativen und Begegnungen ausgegangen. Zu ihnen gesellen sich erinnerungspolitische Projekte oder solche, die – nach der Beilegung eines Konflikts – auf Versöhnung und materielle und/oder symbolische Entschädigung, die Anerkennung der Opfer, die juristische Aufarbeitung des Konflikts zielen.
Insbesondere in den letzten Jahrzehnten sind im Kontext schwerer Gewaltausbrüche neue, kreative Formen eines intelligenten Umgangs, neue Übergangsprozesse entstanden, die hilfreiche Instrumentarien suchen, um Schmerzen zu lindern, Wunden zu heilen und individuelle wie kollektive Entwicklungsprozesse zu ermöglichen.
Recht bald stellte sich heraus, dass man alle diese Mechanismen miteinander verknüpfen und kreativ an die konkrete Situation anpassen muss. Denn die alleinige Anwendung von Einzelmaßnahmen befördert den Prozess in Richtung auf eine Kultur des Friedens und neuer demokratischer Strukturen nicht wirklich.
An dieser Stelle möchte ich die Bemühungen hervorheben, die in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme unternommen werden, um Nachkommen von Opfern und Tätern des Nationalsozialismus zusammen zu bringen. Es gehört viel Mut und Stärke dazu, persönliche und familiäre Erfahrungen öffentlich zu machen, und mehr noch, wenn Opfer und Täter ein und derselben Familie angehören. Es braucht Zeit und Kraft, sich den Ereignissen der Vergangenheit zu stellen und mögliche Kränkungen positiv zu wenden – vergleichbar mit dem Wegräumen der Trümmer einer zerstörten Stadt nach dem Krieg.
Ähnlich den Erfahrungen in der Gedenkstätte Neuengamme gab es auch in Katalonien einige wenige Angebote, die wir „Audiencias Memoriales“ („Anhören und Gedenken“) genannt haben.
Die „Audiencias Memoriales“ in Katalonien
In dem oben beschriebenen Rahmen fand 2015 die erste „Audiencia Memorial“ auf katalonischem Boden statt, ein Experiment, das sich an den öffentlichen Anhörungen innerhalb der Wahrheits- und Versöhnungskommissionen im Kontext von Krieg und Gewalt auf internationaler Ebene orientiert sowie an anderen Versuchen moralischer und symbolischer Wiedergutmachung in Katalonien selbst. Dieser Prozess entwickelte sich vom Ende des Jahres 2014 über die erste Hälfte 2015 hinweg und gipfelte in einem öffentlichen Akt am 6. Mai 2015 in Monistrol de Montserrat.
Ausgehend von diesem eindrucksvollen Vorgang und der Auswertung dieses Experiments planen wir die Ausweitung dieser Initiative auf dem Wege der Wahrheitsfindung, der außergerichtlichen Gerechtigkeit, der gesellschaftlichen Versöhnung und der symbolischen Wiedergutmachung an den Opfern mit dem Ziel, die öffentliche sowohl institutionelle wie zivilgesellschaftliche Anerkennung vor Ort zu erleichtern zugunsten aller Opfer der Gewalt aus der Zeit von 1936 bis 1977. Neben anderen starken Erfahrungen ergab sich auch die Chance, Berichte über Vorgänge anzuhören und miteinander zu teilen, an denen bestimmte Personen und Familien aus Monistrol de Montserrat beider Lager beteiligt bzw. betroffen waren, sowohl auf Seiten der gewalttätiger Akteure als auch auf der der Opfer, und dies bei Ereignissen, die miteinander verkettet und in Palma de Mallorca wie auch in Monistrol de Montserrat vorgefallen waren.
Bei den für 2017 an verschiedenen Orten in Katalonien geplanten Audiencias Memoriales soll es um die Begegnung von Nachkommen ehemaliger politisch motivierter Gewalttäter vom Beginn des Bürgerkrieges mit Nachkommen politisch Verantwortlicher der Francodiktatur gehen, die als Vertreter des Systems Verbrechen begingen oder kontinuierliche Repression ausübten. Die Beteiligten werden unterschiedlichen Generationen angehören (von unmittelbaren Nachfahren bis zur 3. Generation). Es soll Zeit und Raum für die individuelle und kollektive Auseinandersetzung mit den Schatten der Vergangenheit geben, aber zugleich soll die Kraft der individuellen und kollektiven Resilienz vieler Einzelpersonen und Familien, gewürdigt werden, welche menschliche Grenzerfahrungen überstehen mussten und so als positive Vorbilder für die neuen Generationen dienen können.
*Mittlerweile ist Jordi Palou-Loverdos von der Regierungsbehörde in Katalonien mit der Durchführung von 3 weiteren Audiencias Memoriales noch in diesem Jahr beauftragt worden.
**Eine Langfassung dieses Beitrags können Sie hier herunterladen.