Die eigene Familiengeschichte teilen, Rassismus und Diskriminierung bekämpfen und eine paneuropäische Erinnerungskultur schaffen
Am 1. Mai und 2. Mai 2017 fand in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme das dritte Forum „Zukunft der Erinnerung“ statt. 65 Menschen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Polen, Slowenien und Russland waren dafür nach Hamburg gereist. Unter ihnen waren Nachkommen von NS-Verfolgten, Nachkommen von NS-Täter_innen, Repräsentant_innen von Gedenkstätten und Forschungseinrichtungen sowie Schüler_innen und Studenten aus Hamburg und andere Interessierte.
Das übergeordnete Thema des diesjährigen Forums war die weltweite Verbreitung von Rassismus, Diskriminierung und Fremdenfeindlichkeit.
In seiner Eröffnungsrede forderte Detlef Garbe, der Direktor der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, die Teilnehmer_innen dazu auf, sich gemeinsam dem neuen Nationalismus und den rechtsextremen Parteien entgegen zu stellen. Die Notwendigkeit des Widerstands gegen die aktuellen Entwicklungen unterstrich er mit dem Verweis darauf, dass es mittlerweile kaum noch Aufschreie gebe, wenn z.B. das Berliner Holocaust Mahnmal oder auch die Bombardierung Dresdens für die Illustrierung rechter Positionen öffentlich genutzt würden.
Bericht über das Austauschtreffen der Nachkommen
Den Nachkommen von Verfolgten gehen die gegenwärtigen politischen Entwicklungen besonders nahe. 22 Nachkommen von NS-Verfolgten trafen sich einen Tag vor Beginn des Forums, um sich zu vernetzen und über ihren Umgang mit ihrer Familiengeschichte auszutauschen. Yvonne Cossu-Alba und Uta Kühl, Töchter von Widerstandskämpfern und ehemaligen Häftlingen des KZ Neuengamme, präsentierten vor den Teilnehmer_innen des Forums eine Zusammenfassung des Treffens der Nachkommen.
Sie betonten, dass die nationalen Verbände für Überlebende des KZ Neuengamme und die Nachkommen ehemaliger Häftlinge sowie der Dachverband Amicale Internationale KZ Neuengamme eine wichtige Rolle spielten, wenn es darum gehe, sich dort einzumischen, wo Städte und Kommunen, z.B. zur Förderung von Infrastrukturprojekten, ein würdiges Erinnern an die Verfolgten in Gefahr brächten.
Cossu-Alba und Kühl erwähnten aber auch, dass trotz der guten Arbeit, die die nationalen Verbände und die Amicale Internationale KZ Neuengamme leisteten, neue Wege gefunden werden müssten, um mehr Nachkommen zur Repräsentation ihrer Interessen zu verhelfen. Eine Reform des bestehenden Systems oder gar die Gründung einer neuen Organisation sei notwendig, um für alle Nachkommen ehemaliger Häftlinge, unabhängig von ihrem Herkunftsland und den Gründen der Verfolgung ihrer Verwandten, zugänglich zu sein.
In diesem Zusammenhang hoben sie auch hervor, dass sogar die unterschiedlichen Generationen von Nachkommen ihre eigenen Interessen hätten. Über die zweite Generation ließe sich festhalten, dass sie sich vor allem für das von ihren Verwandten erlebte interessierten. Für die die dritte und vierte Generation sei es dagegen wichtig, mehr Erkenntnisse über das Leben während des Kriegs zu erfahren und so ein umfassenderes Bild zu gewinnen
Podiumsdiskussion: Warum schreiben Nachkommen über ihre Familiengeschichte?
Auch während der folgenden Podiumsdiskussion zwischen drei Nachkommen, die Bücher über ihre Familiengeschichte veröffentlicht haben, zeigte sich indirekt, wie unterschiedlich Vertreter_innen der zweiten und dritten Generation mit ihrer Familiengeschichte umgehen.
Als Vertreter der zweiten Generation sprachen Jean-Michel Gaussot, Sohn eines französischen Widerstandskämpfers, und Erald de Wachter, Sohn eines belgischen Widerstandskämpfers. Jean-Michel Gaussot kam erst nach der Verhaftung seines Vaters zur Welt. Er hatte niemals die Chance, seinen Vater kennenzulernen, weil dieser wenige Tage vor der Befreiung im KZ Wöbbelin verstarb. Erald de Wachters Vater Maurice überlebte den Angriff auf die Cap Arcona und konnte nach der Befreiung zu seiner Familie zurückkehren. Erald kam erst nach der Befreiung des Vaters zur Welt. Beide Männer wuchsen ohne wirkliche Kenntnisse über die Geschichte ihrer Väter auf.
Die Schriftstellerin Martine Letterie hingegen kannte die Geschichte ihres Großvaters von klein auf. Martinus Letterie war ein niederländischer Kommunist gewesen, der im KZ Neuengamme starb. Obwohl Martine vertraut war mit den Erfahrungen ihres Großvaters, hatte ihr Vater sie nie an seinen Gefühlen über den Verlust seines Vaters teilhaben lassen. Weil Martine Letterie die Geschichte ihres Großvaters niederschreiben wollte, musste sie auch über ihren Vater schreiben, der bei der Verhaftung von Martinus erst neun Jahre alt gewesen sei.
Mittlerweile hat Martine Letterie ein Kinderbuch und ein Buch für Erwachsene über ihre Familiengeschichte geschrieben. Das Kinderbuch berichtet von den Geschehnissen aus der Perspektive ihres Vaters. Auf Grund seines Schweigens über seine Gefühle musste sie hier ihre Vermutungen als Inspiration benutzen. Sie hatte richtiggelegen. Nach der Veröffentlichung des Buches erklärte ihr Vater, dass er sich in ihrer Darstellung wiederfände.
Jean-Michel Gaussot hatte immer ein Buch über seinem Vater schreiben wollen, tat dies aber nicht bis zum Tod seiner Mutter. Unter ihren persönlichen Gegenständen fand er Briefe ehemaliger Häftlinge, die seinen Vater im KZ kennengelernt hatten. Gaussot konnte beim Schreiben auch auf den Kalender seiner Mutter zurückgreifen, in dem sie weit mehr als nur Termine vermerkt hatte. So konnte er ihre Gedanken, Hoffnungen und Ängste nach der Verhaftung seines Vaters nachvollziehen Obwohl es das Hauptziel des Buches ist, seinen Vater zu würdigen und die Allgegenwärtigkeit dieses unbekannten Mannes in seinem Leben zu erklären, gibt es auch sehr intime Einblicke in die Kindheit und Jugend des Autors selbst.
Erald de Wachter begann sich erst kurz vor seiner Pensionierung für die Geschichte seines Vaters zu interessieren. Zu den Auslösern für den Beginn seiner Recherche zählte der Vorschlag eines Freundes, doch ein Buch über seinen Vater zu schreiben. De Wachter beschreibt in seinem Buch nicht nur die Erlebnisse seines Vaters, sondern auch die der Männer, die mit ihm im Widerstand gewesen waren.
Jugendprojekt: „Stimme erheben, Stimmen bewahren“
Ein großes Ziel des Forums ist es, junge Menschen in die Diskussionen über eine Zukunft ohne Zeitzeugen
miteinzubeziehen. Je mehr Überlebende sterben, desto mehr Verantwortung hat die junge Generation bei der Erhaltung des Gedenkens an die Konzentrationslager und die Verbrechen der Nazis Deswegen organisiert die KZ-Gedenkstätte Neuengamme regelmäßig ein Jugendprojekt. Das diesjährige Projekt „Stimme erheben, Stimmen bewahren“ ermöglichte es den Teilnehmer_innen, Radioprogramme zu erstellen, die einen Vergleich zwischen gegenwärtigen Widerstandsbewegungen gegen Rechtsextremisten und Widerstandskämpfer_innen gegen die Nazis anstellen.
Die neun Teilnehmer_innen waren zwischen 16 und 21 Jahren alt und kamen aus Deutschland, den USA und Russland. Zwei der vier Radiobeiträge stellten sie auf dem Forum vor. Dies waren ein Beitrag zu der Notwendigkeit einer differenzierteren Sicht auf Graf von Stauffenberg und ein Feature über die Unterschiede zwischen aktivem und passivem Widerstand sowie gewaltsamen und gewaltfreiem Widerstand.
Workshops zum “Engagement gegen Rechtspopulismus, Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit heute“
Die Themen des Jugendprojekts wurden nach der Vorstellung der Radiobeiträge in kleinen Workshops wieder aufgegriffen. In diesen Workshops wurde sehr lebhaft darüber diskutiert, was man vom Widerstand während der Nazi-Zeit lernen könne, was Widerstand begünstige, aber auch was ihm im Weg stünde. Meinungsfreiheit und ihre Grenzen sowie der erinnerungspolitische Umgang mit den verschiedenen Formen des Widerstands wurden analysiert.
Formen des Erinnerns
72 Jahre nach Kriegsende und der Befreiung der Konzentrationslager fürchten viele, dass das öffentliche Erinnern an die NS-Verfolgten immer mehr an Bedeutung verlieren wird. Deshalb wurde sich auf dem diesjährigen Forum auch mit neuen Formen des Erinnerns befasst.
Herdenkingsweek 2016
Tom Devos, Mitglied des Vorstands von N.C.P.G.R. – Meensel-Kiezegem ’44, präsentierte die Herdenkingsweek (“Erinnerungswoche), die sein Verband im August 2016 organisiert hatte. Mit ihr wurde der Jahrestag der 1944 durchgeführten Razzia in seinem kleinen belgischen Dorf, die zur Verhaftung und Deportation von 70 Menschen in das KZ Neuengamme führte, begangen. Seine Organisation hatte sich für eine einwöchige Feier, inclusive heiterer Aktivitäten, entschieden, um ein breiteres Publikum über die Geschichte ihres Ortes zu informieren.
Reflections Blog
Während es Ziel der Herdenkingsweek war, jene Menschen zu erreichen, die eher nicht an öffentlichen Formen des Erinnerns teilnehmen, gibt der Blog “Reflections on Family History Affected by Nazi Crimes” gerade jenen, die sich bereits mit der Erinnerungskultur befassen, eine Plattform zum Austausch. Seit zwei Jahren betreut Swenja Granzow-Rauwald den Blog, auf dem vor allem sehr persönliche Beiträge zur Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte veröffentlicht, aber auch neue Projekte vorgestellt und Informationen geteilt werden.
Granzow-Rauwald hob hervor, dass das Alleinstellungsmerkmal des Blogs ist, dass er Nachkommen von Verfolgten und Nachkommen von Täter_innen die Möglichkeit gibt, öffentlich dazu Stellung zu nehmen, wie ihre Familiengeschichte sie beeinflusst. Gegenwärtig bietet der Blog Beiträge auf Deutsch, Englisch, Niederländisch, Französisch, Polnisch und Spanisch an. Obwohl die Ziele des Blogs auch ins Russische übersetzt wurden, gibt es keine russischsprachigen Beiträge. Auch wenn Granzow-Rauwald mit den 23000 Aufrufen der Seite zufrieden ist, plant sie die Bekanntheit des Blogs durch eine Soziale-Medien-Kampagne zu erhöhen.
Digitaal Monument
Die Bedeutung des Internets für neue Formen des Erinnerns wurde von Martine Letterie bei ihrer Vorstellung des Digitaal Monument des niederländischen Vriendenkring hervorgehoben. Dieses Denkmal erlaubt es Besucher_innen Informationen über jeden niederländischen Häftling, der ins KZ Neuengamme gebracht wurde, Informationen zu erhalten. Zusätzlich zu den grundlegenden Informationen über jeden einzelnen ehemaligen Häftling können die Familien Fotos oder Schriftdokumente hochladen, damit die Besucher_innen der Seite die Person besser kennenlernen können.
„Ort der Verbundenheit“
Bernhard Esser, der Sohn des deutschen Widerstandskämpfers Rudolf Esser, und Barbara Hartje, die Präsidentin des Freundeskreises KZ-Gedenkstätte e.V., stellten den Stand der Entwicklungen des Projekts „Ort der Verbundenheit“ vor.
Die Arbeitsgruppe, die das Projekt vorantreibt, stellt sich eine ähnliche Datensammlung und Plattform wie die des niederländischen Digitaal Monument vor. Besonders ist jedoch, dass alle ehemaligen Häftlinge, egal aus welchem Land sie kommen, aufführt werden sollen. Zusätzlich wünscht sich die Arbeitsgruppe ein öffentliches physisches Denkmal, an dem Erinnerungsplaketten angebracht werden können, um an einzelne ehemalige Häftlinge des KZ Neuengamme zu erinnern. Die Arbeitsgruppe arbeitet daran, einen Designwettbewerb zusammen mit der HfBK in Hamburg durchzuführen, um ein Design für das zukünftige Denkmal zu erhalten.
Podiumsdiskussion mit Vertreter_innen von europäischen Gedenkorten und Forschungseinrichtungen
Auf Wunsch der Teilnehmer_innen des Forums 2016 wurden im diesen Jahr Vertreter_innen europäischer Gedenkorte für die nationalen Durchgangslager, über die Häftlinge in das KZ Neuengamme gebracht wurden, eingeladen. Von den angeschriebenen Institutionen in Belgien, Dänemark, Frankreich und den Niederlanden konnten nur Carla Huismann vom „Nationaal Monument Kamp Amersfoort“ in den Niederlanden und Oktaaf Duerinckx, der die Geschichte des Lagers „Fort Breendonk“ in Belgien vorstellte, tatsächlich die Einladung annehmen. Olga Kolichenko ergänzte diese Runde als Vertreterin des Regionalzentrums für Oral History in Varonezh (Russland), das sich mit der Geschichte der Zwangsarbeiter und ihrer Nachkommen befasst.
Carla Huismann präsentierte eine kurze Zusammenfassung der Geschichte des Kamp Amersfoort und der Expansionspläne der Gedenkstätte. Zurzeit besuchten viele Schulklassen die Gedenkstätte. Vorlesungen, Buchpräsentationen und andere pädagogische Programme rundeten das Angebot ab. Ein Ziel der Gedenkstätte sei die Kommunikation mit Nachkommen der ehemaligen Häftlinge. Die Gedenkstätte plane für Oktober 2017 einen Gedenkmarsch entlang der Strecke, die die Häftlinge vom Bahnhof zum Lager hatten zurücklegen müssen.
Fort Breendonk
Der Fokus von Oktaaf Duerinckxs Vortrag über Fort Breendonk lag auf den schrecklichen Bedingungen, die die Häftlinge hatten aushalten müssen. Er erwähnte jedoch auch, dass zwar viele Schulklassen das Museum besuchten, die Gedenkstätte jedoch kein spezielles Programm für Nachkommen anbiete. Er verwies darauf, dass das Museum noch dem belgischen Verteidigungsminister unterstehe.
Regional Center for Oral History
Olga Kolichenko aus dem Regionalzentrum für Oral History in Voronezh gab einen Überblick über die Projekte des Zentrums und die Kombination von Seminaren, praktischer Arbeit und Workshops. Dabei betonte sie das wachsende Interesse an Freiwilligenarbeit im Zentrum und der Möglichkeit, diese auch online durchzuführen.
Alle Vertreter_innen drückten Interesse an einer engeren Kooperation aus, es wurden aber keine konkreten Ideen entwickelt.
Pläne für das Forum 2018
Dr. Oliver von Wrochem, Leiter des Studienzentrums der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, und Swenja Granzow-Rauwald, die zusammen mit von Wrochem das Forum organisiert hatte, stellten zum Abschluss des Forums mögliche Themen für ein Zusammenkommen im Mai 2018 vor.
Zusammenarbeit über Grenzen hinweg
Beide unterstrichen zunächst, dass das Ziel des Forums zunächst sei, Menschen aus verschiedenen Ländern zusammenzubringen, die sich über das Gedenken ohne Zeitzeugen austauschen wollten. Ein Thema für das kommende Jahr könnte die Kollaboration in den besetzten Ländern sein. Es wurde auch vorgeschlagen, Menschen aus nichteuropäischen Ländern einzubinden und die globalen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs zu analysieren.
Die Interessen der Nachkommen von Verfolgten
Granzow-Rauwald griff in ihren Schlussworten die Enttäuschung vieler Teilnehmer_innen darüber auf, dass die Interessen der Nachkommen der Verfolgten nicht genug Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit erhielten.Sie betonte, dass die Verfolgten-Nachkommen um die Anerkennung ihrer Interessen kämpfen sollten. Granzow-Rauwald schlug vor, öffentlich zu zeigen, wie Nachkommen heute noch von ihrer Familiengeschichte betroffen seien, z.B. könne dies durch mehr Beiträge auf dem Reflections Blog erreicht werden. Um diese Beiträge vielen Menschen zugänglich zu machen, würden aber auch noch mehr freiwillige Übersetzer_innen gebraucht.
Die Teilnehmer_innen wünschten sich für das nächste Forum mehr Diversität unter den Anwesenden, insbesondere solle sich mehr um die Teilnahme jüngerer Menschen bemüht werden.
Die Planung für das nächste Forum „Zukunft der Erinnerung“ wird im Herbst beginnen. Ideen können an info@rfhabnc.org schicken.