
Ich heiße Paulina und bin die Enkelin einer ehemaligen Gefangenen des Konzentrationslagers Neuengamme – meiner wunderbaren, geliebten Großmutter Krystyna Razińska.
Ich bin mit dem Glauben aufgewachsen, dass die Welt gut ist, ich habe gelernt, andere Menschen zu lieben, zu vergeben und keine Wut in mir zu hegen. Meine Eltern schützten mich vor Leid und vor allem, was gefährlich und nicht gut für mich war. Als Kind kannte ich keinen Krieg, keinen Tod, keine Unfreiheit und keinen Hunger. Ich konnte mir das alles nicht vorstellen, konnte nicht glauben, dass es nicht ein erfundener Mythos war. Als Teenager nahm ich an den Jahrestagen der Befreiung der Konzentrationslager an Reisen nach Deutschland teil.
Ich bin jetzt 40 Jahre alt, bin Mutter und eine unabhängige Frau. Ich lebe und arbeite in Warschau. Ich bin Managerin in einer medizinischen Klinik. Ich habe zwei Jobs. Ich lebe allein, weil sich mein Privatleben so entwickelt hat. Ich liebe es zu lachen, zu leben, zu tanzen, Fahrrad zu fahren. Ich mag einen guten Film und ein gutes Buch. Ich lerne gerne neue Leute kennen, ihre Geschichten; ich rede und schreibe gerne. Ich bin meiner Großmutter sehr ähnlich. Ich habe die Kraft und den Willen zu handeln und Hindernisse zu überwinden.
Danke, Oma, für die Werte, die du uns weitergegeben hast, dafür, was für ein Mensch du warst und was du uns gelehrt hast. Danke, Oma, dass du uns zum Glauben an Gott und die Liebe erzogen hast. Großmutter war alles Schöne inmitten des Schmutzes des Krieges. Wir vermissen dich, Großmutter, deine Geschichten, denen wir ewig zuhören konnten, deine freundlichen Worte und guten Ratschläge. Der Krieg hat uns alle viel gelehrt.
Ich werde deinen Mut in mir tragen, Oma, für immer.
Wie hast du von der Geschichte deiner Großmutter erfahren?

Oma sprach nie über den Krieg. Stattdessen erzählte sie mir Märchen und Fantasiegeschichten mit Happy Ends, in denen das Gute siegt. Ich wusste lange Zeit nichts von Omas Geschichte. Tatsächlich erfuhr ich sie erst, als Oma nach Deutschland fuhr, um die Befreiung des Konzentrationslagers zu feiern. Ich war damals etwa 15 Jahre alt, so alt wie meine Großmutter, als sie von ihren Eltern getrennt und ins Lager geschickt wurde.
Die erste Person, die mich mit der Familiengeschichte bekannt machte, war meine Mutter. Sie erzählte mir von Oma und dem Krieg, den sie überlebt hatte, ohne zu sehr ins Detail zu gehen. Sie erzählte mir von den jährlichen Feiern bei unseren Nachbarn und von anderen Menschen, die während des Krieges gelitten hatten. Als Teenager war ich mir des Ernstes der Lage nicht ganz bewusst, ich konnte die Bedeutung nicht ganz erfassen. Als ich begann, meine Großmutter auf ihren Reisen nach Deutschland zu begleiten, vertiefte ich mich in das Thema und fragte nach weiteren Geschichten und Details aus Omas Leben.
Heute bin ich mir sicher, dass Oma uns nicht alles erzählt hat und viel Leid mit sich trug. Sie mochte es nicht, in der Vergangenheit zu schwelgen und im Familienkreis oder in Interviews über die Naziverbrechen zu sprechen. Oma war sehr geduldig und bescheiden. Was das Licht der Welt erblicken sollte, schrieb sie auf weißen Blättern nieder, die bis heute erhalten geblieben sind. Sie teilte ihre Gedanken mit anderen. Auch Einladungen nach Deutschland nahm sie mit großer Freude an. Für mich war Oma eine Heldin, fast wie jemand aus einem Film, jemand Außergewöhnliches und Ungewöhnliches, und sie war meine Oma. Ich war sehr stolz auf sie, ich sah in den Augen anderer Menschen Respekt und Bewunderung für sie. Ich sah Güte, Liebe, Vergebung und Versöhnung. Selbst wenn Oma über Hunger, Schläge, das Herausreißen von Schmuck und Folter sprach, erzählte sie es wie eine Geschichte, als ob es sie nichts anginge. In ihrer Stimme war keine Reue zu hören, kein Wunsch nach Rache, keine Beleidigung. Deshalb waren mir Wut, Rache und Verachtung fremd. Ich habe nie ein schlechtes Wort über Deutsche gehört. Sie hat nicht geurteilt, sie hat nie geurteilt. Eines Tages werden wir alle für unsere Taten zur Rechenschaft gezogen werden, sagte Oma oft.
Welchen Einfluss hat deine Familiengeschichte auf die Person, die du heute bist?
Da meine Mutter die Grausamkeiten des Krieges kennengelernt hat, ist sie stets auf jede Situation vorbereitet, die sich im Land ergeben könnte. Ihr Haus ist gefüllt mit Mehl, Zucker und Lebensmitteln mit langem Verfallsdatum.
Schmuck, Wertgegenstände und Erinnerungsstücke werden in einer Kiste aufbewahrt, um sie im Notfall leichter transportieren zu können. Als der russische Krieg in der Ukraine begann, kamen mir die Bilder des Krieges, den meine Großmutter überlebt hatte, wieder in den Sinn. Als Familie machten wir Notfallpläne, wohin jeder von uns fliehen würde, um Schutz zu finden. Das mag absurd erscheinen, aber es ist wahr. Im Falle einer vermeintlichen Bedrohung, auch wenn sie unwahrscheinlich ist, bewaffnet sich unsere Familie mit allem Notwendigen, um sich zu schützen – wie Soldaten. Wir unterschätzen nichts.
Gefühle wie Unruhe und Angst sind mir vertraut. Obwohl ich nach außen hin stark wie meine Großmutter, unbesiegbar und unzerstörbar erscheine, werde ich innerlich von Angst, Unruhe und einem Gefühl der Hilflosigkeit geleitet.
Was für ein Mensch bin ich heute? Ich bin eine glückliche Frau, die das Leben zu schätzen weiß und weiß, dass das Leben das Wertvollste ist, was wir haben. Ich lebe im Augenblick und schätze, was ich habe. Ich will nicht mehr. Oma hat mich gelehrt, zu vergeben. Ich weiß, was gut und was schlecht ist. Der Krieg lehrt Demut, der Krieg verändert. Obwohl ich den Krieg nicht persönlich erlebt habe, habe ich durch Geschichten, Fotos, Videos und Begegnungen etwas über die menschliche Brutalität erfahren. Ich lebe hier und jetzt.
Welche Elemente deiner Familiengeschichte und Werte wirst du an die nächste(n) Generation(en) weitergeben?
Ich bin Mutter eines 11-jährigen Mädchens. Ich lebe allein und kann alles allein regeln. Ich bin nicht wütend, wenn ich verletzt werde. Manche Leute sind überrascht und sagen, dass ich zu nett bin, dass ich seltsam bin und dass man kämpfen muss. Manchmal ist Kämpfen der falsche Weg, um mit der Realität fertig zu werden. Die Welt ist schön, aber wir können es nicht sehen. Das Problem liegt in uns selbst, daher die Kriege.
Ich persönlich ziehe es vor, weiterzugehen und nicht zurückzublicken. Ich möchte nur das Gute in mir tragen, damit ich das Leben genießen und mich frei fühlen kann. Das sind die Werte, die ich an meine Tochter weitergeben werde. Ich habe ihr noch nicht von unserer Familiengeschichte erzählt. Das werde ich tun, wenn sie 15 wird. Natalia hat ihre Urgroßmutter nicht bewusst kennengelernt. Allerdings konnte Oma das kleine Mädchen, ihre Urenkelin, kurz vor ihrem Tod in die Arme schließen.
Freundschaften und Liebe sind sehr wichtig. Reichtum, Häuser, Spielzeug und Spielereien sind nicht wichtig. Was für meine Tochter und mich zählt, ist ein warmes Zuhause, Essen, Sicherheit und Freundschaften. Vielleicht fällt es mir deshalb leichter, trotz vieler Umbrüche in meinem Leben.
Wie kamst du dazu, dich zu engagieren? Was bedeutet dir dein Engagement?

Ich bin nicht Mitglied in einem Verein. In den 1990er Jahren bin ich jedes Jahr im Mai mit meiner Oma zu den Feierlichkeiten anlässlich der Befreiung des Konzentrationslagers gereist. Oma war die Vorsitzende des Vereins der ehemaligen Ravensbrück-Häftlinge in Warschau, sie hat so viel getan. Es wurde auch ein Film über sie gedreht. Er heißt „Der Zug von Sülstorf“. Darin erzählt meine Oma meinem Bruder ihre Geschichte. Ich habe noch eine Videokassette mit dem Film.
Bei den Treffen vertrat ich die Jugend. Wir sind zusammen mit anderen Pol:innen gereist: Janusz Kahl, Henia Sadowska, Irena Piwowarska, Zbigniew Foltynski. Ich habe viele wunderbare Menschen kennengelernt, die wir in den Ferien mit Oma in Hamburg besucht haben. Ich kenne auch Frau Urszula Spinkiewicz, die mit mir in Kontakt steht.
Ich habe nichts Besonderes gemacht. Ich war nur bei Oma und es war für mich die größte Ehre, dass ich sie auf Schritt und Tritt durch ihre Erinnerungen begleiten durfte. Omas Herz ist in Hamburg geblieben, an der Gedenkstätte gibt es ihre Biografie mit Fotos. Ein Stück von ihr ist dort geblieben.
Den Rest trage ich in mir.