Am 23. und 24. September 2024 fand am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt ein internationales Fachsymposium statt, das im Rahmen des Pilotprojekts „Nachkommen von NS-Verfolgten erzählen: Lernsettings und Lernmöglichkeiten an Schulen“ vom OeAD-Programm ERINNERN:AT, der Pädagogischen Hochschule Tirol, dem Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ und der Universität Klagenfurt konzipiert wurde. Im Zeitraum von Mai 2024 bis Juni 2025 werden in Fallstudien Erzähl-Lern-Settings mit NachkommInnen von jüdischen NS-Verfolgten und SchülerInnen in mehreren österreichischen Schulen erprobt. Diese Schulbesuche, wie auch regelmäßige Treffen mit NachkommInnen, werden forschend begleitet, um daraus Empfehlungen für die Arbeit mit NachkommInnen im Schulunterricht ableiten zu können. Ebenfalls einfließen werden die Ergebnisse des am Fachsymposium ermöglichten Wissens- und Erfahrungsaustausches mit ausgewählten ExpertInnen aus dem deutschsprachigen Raum, die ihre Konzepte und Projekte zur Bildungsarbeit mit NachkommInnen vor- und zur Diskussion stellten. Zentrale Ziele und Fragen des Fachsymposiums waren: Fachaustausch und Vernetzung, Klärung und Präzisierung, was „Nachkommenschaft“ in ihrer großen Heterogenität überhaupt bedeutet, aber vor allem auch die Identifizierung von Potentialen und Grenzen der Integration von Nachkommengesprächen in (antisemitismuskritische) Bildungssettings (Schulen, Museen, KZ-Gedenkstätten, …).

© Madlin Peko
Das Projektteam stellte Ausgangslage, Ziele und leitende Fragestellungen des österreichischen Pilotprojekts vor. Den in den letzten Jahren zugenommen Anfragen von NachkommInnen von NS-Verfolgten, Schulen zu besuchen bzw. Teil des Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Programms zu werden, konnte bislang von ERINNERN:AT nicht entsprochen werden. Auch gibt es in Österreich im Unterschied zu Deutschland und der Schweiz wenig Erfahrung in der pädagogischen Arbeit mit NachkommInnen. In der Regel sind es Einzelpersonen oder Kulturschaffende, die sich mehr oder weniger explizit als NachkommInnen engagieren und als solche – überwiegend ohne institutionelle Anbindung – Schulen besuchen. Vor diesem Hintergrund wurde das Pilotprojekt entwickelt: Hauptziel ist es, Lernsettings zu konzipieren, durchzuführen und zu analysieren, in denen NachkommInnen aus ihrem Leben und über ihre Erfahrungen erzählen. Dazu werden zehn Gespräche an Schulen in Wien, Tirol und Kärnten (8. Schulstufe, Mittelschule und AHS) durchgeführt und begleitend erforscht.
Die in unterschiedlichen Schulkontexten erprobten Erzähl-Lern-Settings mit NachkommInnen von NS-Verfolgten werden mit Methoden der teilnehmenden Beobachtung und durch Reflexionsgespräche in Fokusgruppen untersucht und im Fallvergleich ausgewertet. Folgende Fragestellungen sind dabei leitend: Wie gestalten sich Bildungssituationen mit biographischen Erzählungen von NachkommInnen im schulischen Kontext und welche Besonderheiten sind im Vergleich mit langjährig praktizierten Bildungssettings mit Erzählungen der ersten Generation auszumachen? Welche Ansatzpunkte für die pädagogische Vermittlung und Begleitung von Gesprächen zwischen NachkommInnen und SchülerInnen lassen sich rekonstruieren und in welche Richtung könnte eine entsprechende pädagogische Arbeit in Österreich entwickelt werden? Im Vordergrund steht das rekonstruktive Moment der Prozessbeobachtung und die Notwendigkeit, die verschiedenen Perspektiven der am Lernprozess Beteiligten (Lehrpersonen, ZeitzeugInnen, SchülerInnen, Projektteam, forschende BeobachterInnen) einzubeziehen. Bisherige Ergebnisse, Erkenntnisse und Erfahrungen im Projekt wurden in Arbeitsgruppenphase auch anhand von Materialien aus der Begleitforschung in Kleingruppen diskutiert.
Am Abend des ersten Konferenztages hatten die Teilnehmenden die Möglichkeit, eine Klagenfurter Nachkommin und deren Familiengeschichte kennenzulernen. In der am zweiten Symposiumstag erfolgten Reflexionsrunde der Teilnehmenden zur Abendveranstaltung wurde deutlich, dass es „das typische Beispiel“ einer/s Nachkommin/en bzw. einer Nachkommenerzählung und darin zu findender „Positionen“ nicht gibt. Jede Nachkommenerzählung bringe andere Themen und Positionen mit sich und nicht alle Themen eignen sich für den Unterricht. Es sollte genau überlegt werden, welche Themen anhand welcher lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Verarbeitungsweisen mit SchülerInnen besprechbar werden können und wie dies gestaltet (z.B. Vor-/Nachbereitung) oder auch moderiert werden muss. Ein Bereich ist hierbei z.B. das Thema „jüdische Identität“. Die Klagenfurter Nachkommin beschrieb diese als kulturelle, also sich der jüdischen Kultur zugehörig fühlende. Es wurde besprochen, dass Identität nichts Konstantes, sondern etwas sich stetig Wandelndes und Vielfältiges ist. Es zeigte sich, dass im Zuge von Gesprächen mit NachkommInnen jüdischer NS-Verfolgter im Unterricht, die Vielfältigkeit jüdischer Identität vor und nach 1945 (auch in Bezug auf regionale Spezifika) thematisiert werden müsste. Als unerlässlich für Schulbesuche kristallisierten sich Informationen zur Familiengeschichte und zum historischen Kontext heraus, wie auch, die Klärung, was im Unterricht eigentlich passieren solle, also eine Klärung von Erwartungen und Zielen für Nachkommengespräche an Schulen. Nachfragen bezogen sich auf die „Auswahl“ von NachkommInnen in Pilotprojekt und deren unterschiedlichen Erfahrungsgraden und der Herausforderung, Multiperspektivität zu vermitteln, da den SchülerInnen ja stets „nur“ ein „Modell“ im Sinne einer exemplarischen Geschichte vorgestellt werden könne. Der letzte Punkt stellt auch bei Gesprächen mit ZeitzeugInnen der ersten Generation eine Herausforderung dar, der in der Regel über die Arbeit im Unterricht mit mehr als nur einer Lebensgeschichte (z.B. über Lernmaterialien, Interview, biografische Texte) begegnet wird.
Erfahrungen in der pädagogischen Arbeit mit NachkommInnen in Deutschland und der Schweiz standen im Fokus des zweiten Halbtags. Urs Urech, Geschäftsleiter der Stiftung Erziehung zur Toleranz, Zürich, berichtete über Erfahrungen aus dem Projekt „Holocaust. Nachkommen erzählen“, das er auch initiiert hat. Im Jahr 2022 haben 10 NachkommInnen 37 Schulklassen an Gymnasien und Berufsschulen in 11 Kantonen der Deutschschweiz besucht. Lehrpersonen und Lernende haben je einen Fragebogen ausgefüllt und so Feedback gegeben. Auch wurden einige teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Zum Projekt liegt eine Evaluierung vor, aus der hervorgeht, dass die Mehrheit der schriftlich befragten Lehrpersonen die Vermittlung der Shoah durch die NachkommInnen sehr positiv beurteilte. Die SchülerInnen bewerten die Begegnungen ebenfalls positiv und betonten dabei die Bedeutung des Nichtvergessens und des besseren Verständnisses der damaligen Zeit. Aus den Rückmeldungen lässt sich schlussfolgern, dass das Projektformat der NachkommInnen-Besuche und -Erzählungen eine bildungswirksame Ergänzung zum schulischen Geschichtsunterricht ist. Empfohlen wird, die Einbettung in den Unterricht weiter zu optimieren und die Begleitmaterialien zu erweitern, um die Reflexion und das Verständnis zu vertiefen.
Das zweite Referenzprojekt wurde von Thorsten Fehlberg, Universität zu Köln und Else Frenkel-Brunswik Institut und vormals KZ-Gedenkstätte Neuengamme, vorgestellt. Er gab Einblicke in seine Forschung über Motivationen für gesellschaftspolitisches Engagement von Jüdinnen und Juden der zweiten und dritten Generation in Deutschland, wobei die Teilhabe in Bildungs- und Erinnerungsprozessen besonders relevant war. Aus dem Input wurde einmal mehr deutlich, dass NachkommInnen viel mehr als „nur“ ein Ersatz für ZeitzeugInnen sind. Fehlberg erarbeitete eine „Typologie“ des gesellschaftspolitischen Engagements von Jüdinnen und Juden der Folgegeneration, die er in die Kategorien „Verstehen und Verständigung“, „Sicherheit und Selbstwirksamkeit“, „Wut und Widerständigkeit“ teilte. Als Vergleichsebenen sind „Politische Mission“, „Umgangsformen und Anbindungen“, „Erfahrung und Tradierung“, sowie „Bezug zum Judentum“ herangezogen worden. Aspekte, die in der anschließenden Diskussion mit den Teilnehmenden thematisiert wurden, waren u.a. eigene Antisemitismuserfahrungen als Ausgangspunkt für gesellschaftspolitisches Engagement und Aktivismus sowie „Jüdischsein“ als einer von vielen politischen Bezugspunkten.

© Madlin Peko
Eine weitere Arbeitsgruppenphase war als Worldcafé zu praktischen Erfahrungen mit NachkommInnen-Projekten an Schulen konzipiert: Die Teilnehmenden lernten die Projekte „Next Generation“ (Zsófia Heiman, Workshopleiterin bei Granatapfel Kulturvermittlung, Graz), „Holocaust History Projekt“ (Daniela Ebenbauer-Dadieu, Nachkommin und Workshop-Leiterin, Stadtschlaining, Burgenland), „Transgenerationale Überlieferung von Geschichte“ (Karin Heddinga, Wissenschaftliche Referentin im Projekt Dokumentationszentrum „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte) und ein Projekt zu NachkommInnen von verfolgten Sinti und Roma in Berlin (Thomas Erbel, Projektleiter bei Amaro Drom Deutschland) kennen. Es zeigte sich ein breites Spektrum an Bildungsprojekten mit NachkommInnen mit unterschiedlichen Formaten (Vorträge, Workshops, dialogische Formate) sowie Einblicke in unterschiedliche didaktische Materialien (auch digitale) im Kontext der historisch-politischen Vermittlungsarbeit von NS-Geschichte (z.B. lebensgeschichtliche Ansätze, lokalhistorische Bezüge, Arbeit mit Bildern und Artefakten) und ihre Entwicklung (z.B. Interviewprojekte, partizipative Ansätze, Kooperationsprojekte).
Die abschließende Diskussion bestritten drei ExpertInnen: Helga Embacher, Institut für Zeitgeschichte, Paris Lodron Universität Salzburg, Werner Dreier, Historiker, Geschichtelehrer und ehemaliger Geschäftsführer von ERINNERN:AT, sowie Romina Wiegemann, Leitung Pädagogik und Bildungsprogramme, Kompetenzzentrum antisemitismuskritische Bildung und Forschung, Berlin.
Das ExpertInnen-Gespräch begann mit einer Frage zu ZeitzeugInnen- bzw. NachkommInnen-Erzählungen als Quellen und deren Relevanz für die Geschichtswissenschaft, insbesondere für die Nachkriegsforschung und für Kontinuitäten von Antisemitismus.. Zu wenig berücksichtigt werde die Veränderung der jüdischen Communities und deren große Heterogenität, wie auch der Mehrwert von Nachkommengesprächen im Vergleich zu anderen Quellen (Bücher, Filme) und die Unterschiede zwischen zweiter und dritter Generation. Ein Fokus müsse auf Antisemitismus-Erfahrungen von NachkommInnen in der post-nationalsozialistischen Gesellschaft liegen. Dabei müssen auch neue Formen des Antisemitismus berücksichtigt werden, die für die erste Generation keine Rolle gespielt haben. Hinsichtlich eines „gelungenen Geschichtsunterrichts“ sei erforderlich, die Kriterien vorab festzulegen und die Ziele zu präzisieren. Was sind die Rollen, Agenden und Ziele der AkteurInnen und Institutionen? Welche Inhalte und Kompetenzen sollen vermittelt werden? Was ist das Geschichtsbegehren und worin liegen die Interessen der SchülerInnen? Es bestehe Schärfungsbedarf auf all diesen Ebenen. Für die Pilotphase ist zudem empfehlenswert, SchülerInnen Gesprächskultur(en) und Fähigkeiten im Umgang mit Geschichte zu vermitteln wie auch nach der Begegnungsphase mit NachkommInnen eine Reflexionsphase zu ermöglichen. Verantwortung bestehe sowohl für die NachkommInnen als auch für die SchülerInnen. Mit Blick auf Fragen zu transgenerationalen Traumata sei eine Begriffsschärfung notwendig, wie auch die Teams noch multiprofessioneller sein könnten und PsychologInnen (FamiliensystemikerInnen, TiefenpsychologInnen, TraumatherapeutInnen) herangezogen werden könnten.
Das zweitätige Fachsymposium endete mit einem Ausblick des Projektteams: Die Ergebnisse des Pilotprojekts werden im Juni 2025 im Rahmen eines Ergebnisworkshops erstmals vorgestellt und diskutiert und, darauf aufbauend, Empfehlungen für eine zukünftige Bildungspraxis mit NachkommInnen entwickelt. Zum Workshop werden alle Projektteilnehmenden sowie das BMBWF und der wissenschaftliche Beirat von ERINNERN:AT eingeladen. Die finalen Ergebnisse werden in einem schriftlichen Projektbericht formuliert, in den auch die Rückmeldungen aus dem Workshop eingehen. Schwerpunkte des Berichts sollen sein: Erfahrungen aus den Fallstudien, Perspektiven weiterer Forschung und Empfehlungen für eine künftige Bildungspraxis mit NachkommInnen von NS-Verfolgten.
Kontakt
Julia Demmer, OeAD ERINNERN:AT, Wien (julia.demmer@oead.at)
Victoria Kumar, Historikerin, Programmleiterin OeAD ERINNERN:AT, Bregenz (victoria.kumar@oead.at)