„Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“ – so lautet der Titel einer Ausstellung, die vom Jüdischen Museum Wien konzipiert wurde und nach Wien auch im Jüdischen Museum München gezeigt wird.

Achtzig Jahre nach der Schoa sterben die letzten Zeitzeug:innen. Ihre Enkelkinder sind die letzten, denen ein Aufwachsen mit ihnen möglich war. Als sogenannte Dritte Generation sind sie gerade dabei, ihren Platz in der Welt zu finden und setzen sich zum Teil intensiv mit dem Erbe ihrer Großeltern auseinander. Während die Zweite Generation mit den psychischen und physischen Verletzungen ihrer Eltern aufwuchs, hat die Dritte Generation eine größere Distanz zur Familiengeschichte, in der Erinnerung und Schweigen, Familienmythen und -geheimnisse, erdrückendes oder fehlendes Familienerbe allgegenwärtig sind.
Bereits die Gruppe der Holocaust-Überlebenden ist sehr heterogen, dies trifft ebenso auf die Nachkomm:innen zu. In vielen Familien verschwimmen die Grenzen der Generationen und so werden in der Ausstellung viele Themen vom Standpunkt verschiedener Generationen beleuchtet, auch im Nachdenken der einen Generation über die andere.
Das Thema der Generationen nach dem Holocaust ist ein internationales – es national abzuhandeln wäre nicht nur absurd, sondern auch unmöglich, da viele Familien noch in den Jahrzehnten nach 1945 ihre Lebensmittelpunkte teilweise mehrfach verlagerten. Dennoch darf nicht vergessen werden, dass jede Nation ihr eigenes Narrativ des Holocaust entwickelt hat, das auch den familiären Umgang zu einem nicht unerheblichen Teil prägt.
Gezeigt wird in der Ausstellung auch der Zugang von nichtjüdischen Opfergruppen wie Rom:nja und Sinti:ze zum Erbe des Holocaust. Ähnlich wie in jüdischen Familien wollten und konnten die Überlebenden des Porajmos oft nicht über die erlittenen Gräuel sprechen. Hinzu kommt, dass Rom:nja und Sinti:ze auch in der Nachkriegszeit sozial stigmatisiert und ausgegrenzt wurden. Erst mit der Entstehung von Bürgerrechtsbewegungen und Opfervertretungen in den letzten Jahrzehnten ist der nationalsozialistische Genozid an Romn:ja und Sinti:ze ins öffentliche Bewusstsein gerückt.
Transgenerationelle Traumata
„Unerzählte Geschichten werden von Generation zu Generation oft wirkungsmächtiger weitergegeben als Geschichten, über die man reden kann.“[1]
Mit diesen Worten beschreibt der israelische Psychotherapeut und Friedensforscher Dan Bar On die transgenerationellen Traumata, die viele Familien prägen. Sehr deutlich wird das in den Fotografien, die Dan Glaubach 1996 von einem Weingarten bei Gumpoldskirchen in Niederösterreich gemacht hat. Für ihn verkörperte die Winterlandschaft mit ihrer Anordnung von kahlen Weinreben einen Appellpatz im KZ. Die klinische Psychologin Irit Felsen, selbst Tochter von Überlebenden, verwendet die Fotoserie Dan Glaubachs in ihrer Arbeit. Sie berichtet, dass sowohl Überlebende als auch deren Kinder und Enkelkinder emotional auf die Fotos reagieren, da sofort Assoziationen mit dem Alltag im KZ aufkommen. Auch wenn die Nachkomm:innen die traumatisierenden Ereignisse nicht selbst erlebt haben, wird ihre Gedankenwelt von den Geschichten und Bildern des Holocaust beherrscht. Dies trifft auch auf die Installation „Patterns“ des kanadischen Künstlers Jonathan Rotsztain zu, die scheinbar Unsichtbares sichtbar macht. Die farbenfrohe Tapete, die auf ersten Blick wie die eines Kinderzimmers wirkt, offenbart auf den zweiten Blick Holocaust-Ikonografie im Comicstil. Als Enkel von Überlebenden sind solche „vererbten“ Bilder und Erinnerungen auch Teil seiner selbst. Durch die Arbeit macht er deutlich, wie stark sie in sein Unterbewusstsein eingedrungen sind: Sie sind so selbstverständlich wie die Tapete, die er tagtäglich sieht.
Vielfalt der Geschichten
Jede Position der Nachfahr:innen zu ihrer von Verlusten und erlittener Gewalt geprägten Familiengeschichte hat ihre Berechtigung, sei sie radikal, versöhnlich, ironisch, künstlerisch kreativ, verzweifelt oder von Religiosität geprägt. Und so erzählt auch jedes Objekt in der Ausstellung eine einzigartige, sehr persönliche Geschichte. Gezeigt werden Kunstwerke und Installationen, Filme, Fotos aber auch scheinbar belanglose Alltagsobjekte und Dokumente, die für die Besitzer:innen existentielle Bedeutung haben.
Ein abgelaufener Pass aus den 1970er Jahren mit einem amerikanischem Dauervisum vermittelt, wie verunsichert sich jüdische Familien im Nachkriegsösterreich fühlten und wie wichtig es für sie war, die Möglichkeit zu haben, im Ernstfall das Land schnell verlassen zu können.
Ein komplementäres virtuelles Ausstellungsstück dazu sind die Antragsunterlagen für die österreichische Staatsbürgerschaft von Asa Baitch, einem Angehörigen der Dritten Generation. Er ist einer von zahlreichen Nachkomm:innen von Überlebenden, die seit 2021 die österreichische Staatsbürgerschaft beantragen können. Seine Großmutter Herta Griffel-Baitch flüchtete im November 1940 mit einem der letzten Kindertransporte aus Wien in die USA. Zur Verleihung der Staatsbürgerschaft begleitete ihn seine Großmutter, sie selbst wollte sie nicht beantragen. Es war eines der letzten gemeinsamen Erlebnisse, Herta Griffel-Baitch starb wenige Wochen danach.
Der Frage, was man eigentlich sucht, wenn man sich intensiv mit der Familiengeschichte auseinandersetzt, geht Rafael Goldchain in seiner Installation „I am my Family“ nach. In den späten 1990er-Jahren erstellte er ein Selbstporträt, das gleichzeitig seinen Großvater darstellt. Anschließend schuf er aus dem Gedächtnis, Erzählungen seiner Familienmitglieder sowie alten Fotoalben immer neue Selbstporträts, für die er in die Rolle weiterer Verwandter schlüpfte. Als er die Lücken im Stammbaum durch Nachforschungen nicht mehr füllen konnte, ergänzte er diese mit imaginierten Verwandten. Viele seiner polnischen Vorfahr:innen emigrierten ab den frühen 1920er-Jahren nach Lateinamerika. All jene, die in Polen blieben, wurden in der Schoa ermordet. Für Goldchain stellt dieses Reenactment die Trauer um deren Verlust dar und zeigt gleichzeitig, dass im Verlangen, mehr über sie zu wissen, der Wunsch steckt, mehr über sich selbst herauszufinden.
„Aber es geschah danach und jeder Mord zählt nun doppelt, zählt zehn-, hundert-, tausendfach.“[2]
Das Massaker der Hamas und der darauffolgende Krieg haben nicht nur unzählige neue Traumatisierungen zur Folge, sondern wecken auch die Traumata des Holocaust, die tief in der israelischen Gesellschaft verankert sind. Plötzlich sind die Warnungen der Großeltern und die Ängste mancher Kinder und Enkelkinder mit erschreckender Brutalität wahr geworden. Der Angriff der Hamas und der weltweite Anstieg des Antisemitismus löste bei Jüdinnen und Juden in Israel und in der Diaspora eine tiefgehende Verunsicherung aus. Zahlreiche Künstler:innen haben sich unmittelbar nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 dem Versuch gestellt, das Geschehene zu begreifen und zu verarbeiten. Noa Arad Yairi aus Jerusalem zeigt in einem Zyklus von Gemälden in Acryl und Bleistift Menschen in Trauer und Verzweiflung. Bewusst zeigt sie keine wiedererkennbaren Gesichtszüge, sondern universelle Gesten. Darin findet sich einerseits der Schock über die aktuellen Gewalttaten, andererseits zeigen sie einfach menschliche Reaktionen auf Unbegreifliches.
Das raumübergreifende Zitat von Cécile Wajsbrot eröffnet eine wichtige reflexive Dimension. Es bezieht sich auf das Pogrom im polnischen Kielce, bei dem am 4. Juli 1946 vierzig Jüdinnen und Juden von einem aufgebrachten Mob erschlagen und mehr als achtzig schwer verletzt wurden. Das war danach geschehen, nach der Schoa, und lässt uns mit der Frage zurück, ob die Menschen jemals aus den Gräueltaten der Geschichte etwas lernen.

[1] Dan Bar On, Transgenerational Aftereffects of the Holocaust in Israel: Three Generations.” In: Efraim Sicher, ed., Breaking Cristal: Writing and Memory after Auschwitz, Urbana / Chicago 1998, S, 99
[2] Cécile Wajsbrot, Mémorial, Paris 2005, S. 72.