„Ein Krieg – vier Wege der Erinnerung“ in Perpignan/Südfrankreich
Vom 6. bis 11. März 2017 konnte man in der südfranzösischen Stadt Perpignan eine Woche der besonderen Art erleben. Den Anstoß hatte Barbara Brix gegeben, Mitglied des Freundeskreises der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und Kennerin der Geschichte des 2. Weltkrieges in dieser Region, seit sie als Freiwillige von „Aktion Sühnezeichen Friedensdienste“ ein Jahr in der entstehenden Gedenkstätte des ehemaligen Internierungslager Rivesaltes verbracht hat.
Am Anfang stand das Forum „Zukunft der Erinnerung“ in Neuengamme
So kamen – unterstützt und begleitet von dem stark in Rivesaltes engagierten Verein TRAJECTOIRES – in Perpignan vier Menschen zusammen, die bereits 2014, 2015 und 2016 am Forum „Zukunft der Erinnerung“ der Gedenkstätte Neuengamme teilgenommen hatten: zwei Kinder von Nazi-Tätern – Barbara Brix und Ulrich Gantz – und zwei Kinder ehemaliger Häftlinge des KZ Neuengamme: Yvonne Cossu-Alba und Jean-Michel Gaussot. Erstmalig stellten sie sich nun gemeinsam einem Publikum von Schülerinnen und Schülern.
Im Collège St. Exupéry trafen wir mit mehreren 9. Klassen (Troisièmes) zusammen, die sich auf den landesweiten Wettbewerb „Résistance und Deportation“ vorbereiteten. Auch die Lokalzeitung „L’Indépendant“ und das lokale Fernsehen waren zugegen. „Während der gesamten zwei Stunden“ schrieb später der „Indépendant“ „hingen die Jugendlichen an den Lippen der Sprechenden und folgten gebannt den Erinnerungen dieser Frauen und Männer, die ohne ihr Zutun in die leidvolle Geschichte des 2. Weltkriegs hineingerissen worden waren.“
Zwei Tage später hatten wir das Vergnügen, einige dieser Schülerinnen und Schüler in ihrem „Club Radio“, einem Neigungskurs der Schule, wiederzutreffen, in dem sich – und dies scheint mir interessant und wichtig hervorzuheben – die ethnische Vielfalt der gesamten Schülerschaft widerspiegelte. Sie wollten eine Sondersendung über unsere Begegnung bringen und stellten uns viele Fragen, die ein starkes Interesse und sehr persönliche Überlegungen erkennen ließen.
Ortswechsel: eine Buchhandlung und ein Gymnasium
Auf ein ganz anderes Publikum – gut vorgebildete Erwachsene – trafen wir an einem der Abende in der Buchhandlung TORCATIS, wo zunächst Jean-Michel Gaussot das Buch vorstellte, das er über seinen im KZ Neuengamme umgekommenen Vater geschrieben hat: „Ode an einen großen Abwesenden, der mich nie verlassen hat“ (frz. bei l’Harmattan, 2016). Er erläuterte die Beweggründe und die Umstände der Entstehung dieses Buches und las einige Passagen, die seine Zuhörerinnen und Zuhörer zutiefst bewegten. Dann nahmen wir unsere „Mémoires à quatre voix“ (vierstimmige Erinnerungen) wieder auf und stellten uns den interessierten Fragen des Publikums: Was genau diese vier Nachkommen mit ihren unterschiedlichen Geschichten erlebt, welche Motive und Umstände zu ihrer Annäherung und zu ihrem einzigartigen Entschluss geführt hatten, gemeinsam in der Erinnerungsarbeit aktiv zu werden.
An einem anderen Tag waren wir zu Gast im Lycée Maillol – einem modernen, architektonisch ansprechenden Gebäude aus Glas und Stahl – morgens in einer Abiturklasse, nachmittags in der Aula bei einem Vorbereitungskurs für die Hochschule „Sciences-Po“ (Paris), zu dem sich einige Lehrerinnen und Lehrer, Eltern sowie ehemalige Schülerinnen und Schüler gesellten, die ebenfalls zahlreich und intensiv nachfragten. Eine Schülerin deutsch-polnischer Herkunft zog eine Verbindung zu ihrer eigenen Familiengeschichte und musste zugeben, dass sie – anders als Barbara Brix und Ulrich Gantz – bisher vor dem Risiko der eventuellen Aufdeckung einer Nazi-Vorgeschichte nicht den Mut gehabt hätte, ihre Fragen und vorsichtigen Nachforschungen weiter zu verfolgen.
Nachgedanken
Die Gefahr der Wiederholung oder gar einer gewissen Monotonie beim Immer-wieder-Erzählen unserer Geschichten stellte sich angesichts der Unterschiedlichkeit unserer Zuhörerschaft und ihrer verschiedenartigen Zugänge zu dem Thema nicht ein. In ihren Fragen spürte man das überaus starke Interesse an der Geschichte der beiden Nachfahren von Nazi-Vätern – zumindest für Frankreich eine neuartige Perspektive und weniger bekannt als die der Kinder von Résistancekämpfern: die Entdeckung der Wahrheit, die so lange und so breit verschwiegen worden war, der unmittelbare oder auch zögerliche Umgang mit dieser Wahrheit, die Folgen für ihr Leben und die Bedingungen ihres Engagements in der Erinnerungsarbeit.
Viele Fragen bezogen sich auf die Umstände unserer Begegnung, auf die Unterschiedlichkeit insbesondere der leidvollen Aspekte unserer Biographien, auf Punkte unserer Annäherung und die Entwicklung unserer Beziehung bis hin zu einer tiefen und aufrichtigen Freundschaft. Letztendlich eint uns der Wille, vor dem Wiedererstarken nationalistischer und kommunitaristischer Ideologien zu warnen und mitzuhelfen, eine offene, liberale Zivilgesellschaft zu entwickeln. Dabei werden Unterschiede nicht als Hindernisse, sondern als Bereicherung empfunden. Unser Ziel ist es, eine friedlichere, tolerantere, zivilisiertere Welt zu bauen – so wie es Klaus Mann 1939 formuliert hat: “Die Intoleranz ist das oberste Gesetz des Dschungels; ohne Toleranz ist die
Zivilisation zum Tode verurteilt.“ [Klaus Mann, Mise en garde, Phébus 2016 (6 Aufsätze und Vorträge 1930 bis 1945)].
Übersetzt von Barbara Brix
Der Artikel erschien im französischen Original in „N’oublions jamais“ (N° 234, April 2017), der Zeitschrift der französischen Amicale de Neuengamme et de ses Kommandos.