Im Projekt „Holocaust. Nachkommen erzählen“ bot die Stiftung Erziehung zur Toleranz (SET) Schulen und anderen Bildungsinstitutionen in der Schweiz die Möglichkeit, Nachfahr:innen von Holocaust-Überlebenden – Angehörige der zweiten und dritten Generation – einzuladen. Diese Besuche fanden in der Sekundarstufe 2 in den Jahren 2022 und 2023 statt. Die Evaluation zum Projekt stelle ich kurz vor, da sich viele aktivistische Nachfahr:innen damit auseinandersetzen, wie sie öffentlich über ihre eigene Geschichte und die ihrer Vorfahr:innen sprechen können. In diesem Feld sind bereits einige Menschen aktiv (vgl. Fehlberg/Klein 2021, S. 246-250).
Inhalt und Resonanz der Besuche
Die Nachkomm:innen berichten von der Shoah-Verfolgung ihrer Eltern oder Großeltern. Dabei schaffen sie einen persönlichen Bezug zur Geschichte der Shoah, indem sie in ihren Erzählungen die eigenen Beziehungen zu den Überlebenden sowie ihre eigenen Erfahrungen mit der Bewältigung der Erinnerung in der Nachkriegszeit beleuchten. Ziel ist es, die Bedeutung des familiären Umgangs mit der Geschichte der NS-Verfolgung zu vermitteln. Die Schüler:innen erhalten Einblicke in Kontinuitäten des Antisemitismus während und nach der NS-Zeit. Außerdem teilen die Nachkomm:innen ihre Motivation, die Familiengeschichten weiterzugeben (Mathis 2024, S.3).
Laut der Evaluation bewertet die Mehrheit der Lehrpersonen die Vermittlung durch die Nachkomm:innen sehr positiv. Besonders an Kantonsschulen und Mittelschulen wurde die Erzählung überwiegend als „sehr gut“ oder „gut“ eingeschätzt. An Berufsschulen fiel die Bewertung zwar ebenfalls positiv, jedoch etwas zurückhaltender aus. Die Integration der Besuche in den Unterricht wurde unterschiedlich gut bewertet: Kantonsschullehrkräfte empfanden sie als sehr gelungen, während Berufsschullehrkräfte zurückhaltender waren, was durch die geringere Unterrichtszeit für Geschichte an Berufsschulen teilweise erklärt wird (Mathis 2024, S. 17-18).
In Bezug auf die Vorbereitung und Nachbereitung der Besuche variieren die Angaben der Lehrpersonen stark. Einige Lehrkräfte bereiteten den Besuch intensiv vor, zum Beispiel durch den Besuch von Gedenkstätten oder die Bearbeitung spezifischer Themen, während Lehrer:innen anderer Schulen nur eine kurze Vorbereitung von zwei Unterrichtsstunden anbieten konnten. Die Nachbesprechung der Besuche fiel in der Regel kurz aus (Mathis 2024, S. 17).
Trotz der Unterschiede in der Bewertung der Einbettung der Besuche in den Unterricht betrachten die Lehrkräfte die Erzählungen der Nachkomm:innen als hilfreich zur Erreichung der Lernziele im Fach Geschichte. Die Mehrheit äußerte den Wunsch, zukünftig erneut Nachkomm:innen einzuladen. Zudem waren alle Lehrpersonen der Ansicht, dass die Besuche einen bedeutenden Beitrag zur Rassismusprävention leisten (Mathis 2024, S.10). Diese Einschätzung besteht, obwohl es hauptsächlich um Antisemitismus ging. Die klare Abgrenzung der Diskriminierungsformen mit jeweiligen Erscheinungsformen wäre wünschenswert (vgl. Bernstein/Küpper 2022; Fava 2019).
Auch die Schulklassen bewerteten die Besuche der Nachkomm:innen überwiegend positiv. Die Schüler:innen an Kantonsschulen schätzten die Begegnungen als wichtiger und hilfreicher ein als Schüler:innen anderer Schultypen. Sie betonten vor allem die Bedeutung des „Nichtvergessens“ und der Vertiefung des Verständnisses der Zeit des Nationalsozialismus.
Schlussfolgerung
Die positiven Rückmeldungen von Lehrpersonen und Schüler:innen verdeutlichen die Relevanz des Projekts. Die Besuche von Nachkomm:innen der NS-Verfolgten und ihre Erzählungen werden als wertvolle Bereicherung des schulischen Geschichtsunterrichts wahrgenommen. Besonders positiv wurde die persönliche Verbindung hervorgehoben, die durch die Erzählungen entsteht. Die Auswirkungen der Shoah werden für die Lernenden greifbarer und emotionaler. Das Format kann dazu beitragen, den Unterricht durch reale, lebensnahe Perspektiven zu bereichern.
Die Einbettung der Besuche in den Unterricht variiert je nach Schultyp. Die Evaluation empfiehlt, die Lehrkräfte stärker zu unterstützen, indem zusätzliche Begleitmaterialien bereitgestellt werden, um die Reflexion der Erzählungen im Unterricht zu vertiefen. Außerdem sollten Lehrpersonen historische Ereignisse vor und nach den Besuchen der Nachkomm:innen intensiver thematisieren und aufarbeiten, um eine nachhaltigere Wirkung zu gewährleisten (vgl. Mathis 2024, S. 6). Es könnte auch über eine stärkere Verankerung in den Lehrplan nachgedacht werden.
In der Evaluation wird angeregt, Steckbriefe der im Projekt vorgestellten Nachkomm:innen zu entwickeln, die zentrale historische Eckpunkte und Kontextwissen enthalten. Diese könnten den Lehrpersonen und Schüler:innen helfen, die Erzählungen besser in den Geschichtsunterricht einzubetten. Zudem sollten Lehrpersonen stärker dazu angehalten werden, die emotionale „Nähe“, die durch die persönlichen Erzählungen entsteht, im Unterricht zu reflektieren und mit den Schüler:innen kritisch zu hinterfragen (Mathis 2024, S.16-18). Sinnvoll erscheint es mir aber auch, die Geschichten der Nachkomm:innen selbst stärker in den Blick zu nehmen und klar zu machen, dass sie sich selbst repräsentieren und nicht stellvertretend für ihre verstorbenen Angehörigen agieren. Vorsicht ist auch geboten, weil unter den Schüler:innen von Antisemitismus betroffenen Personen sein können (vgl. Bernstein et al. 2022; Chernivsky et al. 2020).
Zum Text: Mathis, Christian (2024). Bericht zur Auswertung der Besuche von Nachkomm:innen. Projekt «Holocaust. Nachkommen erzählen» der Stiftung Erziehung zur Toleranz (SET). Evaluation der Besuche auf der Sekundarstufe 2 in den Jahren 2022/23. Pädagogische Hochschule Zürich. https://doi.org/10.5281/zenodo.12154382
Weitere Quellen:
Bernstein, Julia/Grimm, Marc/Müller, Stefan (2022): Juden und Jüdinnen als Objekte oder als Subjekte? Überlegungen zu einem Paradigmenwechsel. In: Schule als Spiegel der Gesellschaft: Antisemitismen erkennen und handeln, Bernstein, Julia/Grimm, Marc/Müller, Stefan (Hrsg): Antisemitismus und Bildung. Frankfurt/M: Wochenschau Verlag, S. 17–31.
Bernstein, Julia/Küpper, Beate (2022): Antisemitismus – Rassismus: Gemeinsamkeiten und Unterschiede. In: Schule als Spiegel der Gesellschaft: Antisemitismen erkennen und handeln, Bernstein, Julia/Grimm, Marc/Müller, Stefan (Hrsg): Antisemitismus und Bildung. Frankfurt/M: Wochenschau Verlag, S. 265–287.
Chernivsky, Marina/Lorenz, Friederike/Schweitzer, Johanna (2020): Antisemitismus im (Schul-)Alltag – Erfahrungen und Umgangsweisen jüdischer Familien und junger Erwachsener, Hrsg: Kompetenzzentrum für Prävention und Empowerment der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V.
Fava, Rosa (2019): Rassismus und Antisemitismus: Unterscheiden, nicht isolieren: https://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/14637 (21.10.2024).
Fehlberg, Thorsten/Klein, Anne (2021): Nachkomm_innen von NS-Verfolgten als erinnerungspolitische Akteur_innen. In: Lölke, Janna/Staats, Martina (eds.): richten – strafen – erinnern. Nationalsozialistische Justizverbrechen und ihre Nachwirkungen in der Bundesrepublik. Göttingen: Wallstein, S. 237–251.