Unvergessliche Begegnung
Anfang August trat ich gemeinsam mit vier anderen Teilnehmerinnen und einer der beiden Projektleiterinnen des Filmprojektes „Welcher Film spielt denn hier?“ der KZ-Gedenkstätte Neuengamme die Reise in das kleine belgische Dorf Meensel-Kiezegem an. Die vier Tage, an denen wir der „Herdenkingsweek“ in Meensel-Kiezegem beiwohnten, waren eine ereignisreiche und lehrreiche Zeit, die ich so schnell nicht vergessen werden.
Unsere Zeit in Belgien war von früh bis abends durchgeplant. Vormittags standen wir den ehrenamtlichen Helfern und Helferinnen bei der Vorbereitung der Veranstaltungen zur Seite und während des Nachmittags- und Abendsprogramms schmissen wir gemeinsam die Bar im großen Festzelt. Auf Grund unserer mangelnden Sprachkenntnisse im Flämischen und Niederländischen war dies meist eine große Herausforderung. Nicht zuletzt auf Grund des herzlichen Teams, das uns geduldig die flämische Getränkekarte erklärte und uns bei größerem Besucheransturm tatkräftig zur Seite stand, meisterten wir zusammen als Team die sprachlichen Hürden und unsere begrenzten gastronomischen Erfahrungen. Wir wurden sehr herzlich im Team der Herdenkingsweek aufgenommen und durften sowohl vor als auch hinter der Bar Bekanntschaft mit vielen supernetten, interessanten Menschen machen. Einer dieser Menschen ist Vital Craeninckx.
Ausflug in die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Breendonk
Am Sonntagabend beschlossen wir, an unserem freien Dienstagvormittag in die Gedenkstätte des ehemaligen Konzentrationslagers Breendonk zu fahren. Unser Gastgeber Tom Devos antwortete auf unser Vorhaben mit dem Satz „one phone call“. Ein Satz, den wir von Tom im Laufe der vier Tage öfters gehört haben. Einen kurzen Telefonanruf mit Vital Craeninckx später, teilte uns Tom mit, dass Vital uns gerne nach Breendonk begleiten möchte. In den frühen Morgenstunden wartete Vital bereits vor dem Gelände der Fruit Vanhellemont auf uns. In unserem Siebensitzer folgten wir Vital in seinem Auto Richtung Antwerpen, um schon bald festzustellen, dass wir vergessen hatten zu tanken. Die nächsten Kilometer waren wir also beschäftigt damit, Vital bemerkbar zu machen, dass wir dringend eine Tankstelle benötigen. Da wir keine Handynummer von ihm hatten, gestaltete sich die Kommunikation verständlicherweise etwas schwieriger. Nachdem wir Vital mit heruntergekurbeltem Fenster unser kleines Problem schildern konnten, nahm er sich geduldig unserer Odyssee nach der Suche einer Tankstelle an.
Wenige Minuten nach der Ankunft in der Gedenkstätte Breendonk war uns allen klar, dass es eine grandiose Idee von Tom war, Vital als unsere Begleitperson anzufragen. Vital begleitete uns die nächsten zwei Stunden durch die Gedenkstätte, übersetzte die Informationstafeln für uns ins Englische, zeigte uns spannende Ausstellungsdokumente, versorgte uns mit Hintergrundinformationen und erzählte uns nicht zuletzt mehr über sich: von seiner Familiengeschichte, seinem Engagement als Vorsitzender in der N.C.P.G.R Meensel-Kiezegem und nun in der gleichen Funktion für die Organisation „Meensel-Kiezegem ´44 N.C.P.G.R“, sowie seiner Arbeit in der Finanzverwaltung der Gedenkstätte Breendonk für die N.C.P.G.R auf nationaler Ebene. Fasziniert von der Begegnung und den interessanten Gesprächen, beschlossen Pauline und ich, Vital am gleichen Abend nach einem Interview für den Blog zu fragen. Wir sprachen mit ihm über seine Familiengeschichte, wie diese sein eigenes Leben beeinflusste, sein ehrenamtliches Engagement für „Meensel-Kiezegem ´44 N.C.P.G.R“ und die N.C.P.G.R auf nationaler Ebene und seine Vorstellungen für die geplante neue Ausstellung über die tragische Geschichte Meensel-Kiezegems im Zweiten Weltkrieg.
Vital Craeninckx Familiengeschichte
Wie das Leben vieler Familien aus Meensel-Kiezegem, wurde auch Vital Craeninckxs eigene Familiengeschichte nachhaltig geprägt von den schrecklichen Ereignissen am 3. und 11. August 1944 in Meensel-Kiezegem. Seine beiden Großväter, Vital Craeninckx, nach dem er bennant wurde und Frans Pasteyns waren zwei der insgesamt 91 Männer, Frauen und Kinder, die im Zuge der beiden Razzien festgenommen wurden. Die unschuldigen Geiseln wurden zunächst in die deutsche Polizeidienststelle in Leuven und nach kurzer Zeit von dort zum Gefängnis in Sint-Gillis in Brüssel gebracht. Zusammen mit 71 anderen Männern aus Meensel-Kiezegem wurden Frans Pasteyns und Vital Craeninckx am 31. August 1944 in das Konzentrationslager Neuengamme deportiert. Vital Craeninckx Großväter kehrten von dort nie wieder zurück. Zwei der vier Söhne von Vital und Delphine Craeninckx wurden ebenfalls am 11. August 1944, gemeinsam mit ihrem Vater, verhaftet. Die beiden 16-jährigen Söhne, Frans und Jozef Craeninckx, gehörten zu dem letzten Gefangenentransport, der am 2. September 1944 das Brüsseler Gefängnis Sint-Gillis in Richtung Neuengamme verließ. Vor der belgischdeutschen Grenze konnte der Zug gestoppt werden und fuhr zurück nach Brüssel. Einen Tag später überschritten alliierte Truppen die belgische Grenze. Frans und Jozef Craeninckx waren damit frei. Bereits am gleichen Tag kehrten die beiden Brüder nach Meensel-Kiezegem zurück. Vital Craeninckx Vater und dessen Zwillingsbruder hatten sich bereits vor den Razzien auf einem Bauernhof versteckt, da sie als Arbeitsdienstverweigerer gesucht wurden und entgingen so den beiden Razzien und der Festnahme.
„When I was young I was not so interested in these facts.“
Auf unsere nächste Frage, welchen Einfluss seine Familiengeschichte auf sein eigenes Leben hat und hatte, antwortet Vital sehr ehrlich mit der Feststellung, dass ihn diese in jungen Jahren weniger interessiert hat. Erst im Alter von 16-18 Jahren erweckte sein damaliger Geschichtslehrer Vitals Interesse für die Geschichte des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs. In Gesprächen mit seinem Vater und seiner Mutter erfuhr er mehr über seinen eigenen familiären Hintergrund. Vitals Mutter ist mittlerweile 92 Jahre alt und eine der ältesten Zeitzeugen und Zeitzeuginnen, die Auskunft über die schrecklichen Ereignisse in Meensel-Kiezegem geben können. Jetzt im Alter von 62 Jahren hat er großes Interesse für seine Familiengeschichte und den historischen Hintergrund, berichtet uns Vital. Mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht erzählt er uns, dass er seine Mutter heute regelmäßig zu den beiden Razzien befragt, die sie im Alter von 18 Jahren miterlebt hat. „Das muss etwas komisch für meine Mutter sein“, resümiert Vital, dass er viele Jahre wenig nachgefragt hat und sich jetzt regelmäßig mit seinen Fragen an sie wendet.
Engagement für „Meensel-Kiezegem ´44 N.C.P.G.R und die nationale Vereinigung der N.C.P.G.R
Vitals verstärktes historisches Interesse und Bewusstsein führte schließlich zum ehrenamtlichen Engagement in der N.C.P.G.R Meensel-Kiezegem, in der er nach dem Tod seines Onkels Frans Craeninckx 2007 zum Vorsitzenden ernannt wurde. Seit dem Zusammenschluss der beiden Organisationen „Stichting Meensel-Kiezegem ´44“ und „N.C.P.G.R Meensel-Kiezegem“ letzten Jahres zur Organisation „Meensel-Kiezegem ´44 N.C.P.G.R“ übt Vital auch hier das Amt des Vorsitzenden aus. Während die beiden Vorgängerorganisationen weitestgehend unabhängig voneinander existiert haben, bietet der Zusammenschluss Vital zufolge viele beträchtliche Vorteile. Der größte Vorteil liegt für Vital in dem größeren Organisationspotential, was nicht zuletzt daran liegt, dass „Meensel-Kiezegem ´44 N.C.P.G.R“ über mehr Mitglieder verfügt. Die Arbeit für die Organisation kann nun besser auf die einzelnen Mitglieder verteilt werden: So gibt es beispielsweise eine Gruppe, die die alljährliche Fahrt in die Gedenkstätte Neuengamme und einzelner ehemaliger Außenlager organisiert und eine Gruppe, die sich vor allem um die Vorbereitung der Gedenkveranstaltungen in Meensel-Kiezegem kümmert. Zusätzlich zu seinem Amt des Vorsitzenden für „Meensel-Kiezegem ´44 N.C.P.G.R ist Vital auch ehrenamtlich für die nationale Vereinigung der N.C.P.G.R tätig. Gemeinsam mit Gesandten anderer belgischer Organisationen, trifft sich Vital vier Mal im Jahr in der Gedenkstätte Breendonk. Als Mitglied der Finanzverwaltung berät sich Vital mit den anderen Mitgliedern über die finanzielle Unterstützung der Gedenkstätte.
„I think the important thing is, that we can give something to younger people“
Zum Abschluss unseres Interviews fragen wir Vital danach, welche Veränderungen er sich von der geplanten neuen Ausstellung zu den Ereignissen in Meensel-Kiezegem 1944 erhofft. Während es momentan noch zwei kleinere Museen in Meensel-Kiezegem gibt, die von den beiden Vorgängerorganisationen „Stichting Meensel-Kiezegem“ und der „N.C.P.G.R Meensel Kiezegem“ konzipiert und errichtet wurden, besteht seit dem Zusammenschluss zur Organisation „Meensel-Kiezegem ´44 N.C.P.G.R“ der Wunsch, gemeinsam ein neues, größeres Museum zu eröffnen. Vitals größter Wunsch für die neue Ausstellung ist es, junge Menschen anzusprechen und zu erreichen. Die Ausstellung soll für junge Menschen, die mittlerweile der dritten und vierten Generation angehören, ansprechend gestaltet sein. Dies möchte Vital unter anderem mit dem Einsatz moderner Techniken, wie etwa Computern, Filmen und Audioguides erreichen. All diese Anschaffungen kosten aber viel Geld, weswegen sich die Organisation gerade um Gelder bemüht, um die neue Ausstellung bald in die Realität umsetzen zu können. Mit dem Resümee, dass es Vital ein großes Anliegen ist, dass die Ereignisse in Meensel-Kiezegem niemals vergessen werden und ihm gerade auch deshalb die Verwirklichung der neuen Ausstellung so am Herzen liegt, beendet er die Antwort auf unsere letzte Frage.
„There was a singer: Bob Dylan. Do you know him?“
Danach sprechen und diskutieren wir mit Vital über tagespolitisch aktuelle Geschehnisse. Lächelnd fragt er uns, ob wir beide den Sänger Bob Dylan kennen. Klar kenne ich Bob Dylan, entgegne ich auf Vitals Frage. 2012 habe ich mir einen kleinen Traum erfüllt und ihn live gesehen. Bob Dylan ist Vitals Lieblingssänger. In Zeiten wie diesen muss er oft an das Lied „The Times they are a-changing“ denken. Die Zeiten ändern sich eben nicht, resümiert Vital. Gemeinsam mit Vital gehen wir zurück zum großen Festzelt um den nächsten Veranstaltungen beizuwohnen, die sich an diesem Abend alle dem Thema des 1. Weltkriegs widmen.
„I hope, you will not forget me, girls!“
Einige Stunden vorher besuchten wir mit Vital das kleine Museum im Gebäude des ehemaligen Rathauses, dass er für die „N.C.P.G.R. Meensel Kiezegem“ ganz alleine konzipiert und umgesetzt hat. Am Ende der Besichtigung der Ausstellung überreichen wir Vital eine Packung Merci-Schokolade und einen Brief, um uns für den wunderschönen Tag mit ihm zu bedanken. Nachdem Vital die letzte Zeile gelesen hat, entgegnet er uns gerührt: „Ich hoffe ihr werdet mich nicht vergessen, Mädels!“ Nein, Vital, das werden wir ganz gewiss nicht!
In Zusammenarbeit mit Pauline Schweinbach.