Das Damals im Heute
Die ereignisreiche „Herdenkingsweek“ in Meensel-Kiezegem war das beeindruckende Resultat der Mitarbeit ganzer Familien von Angehörigen der Opfer der Razzien im August 1944. So trafen verschiedene Generationen aufeinander, die allesamt ihren Teil zu der großen Gedenkfeier beitrugen, darunter auch Magda Duerinckx. Ihr Vater Oktaaf Duerinckx, den wir bereits während des diesjährigen Forums „Zukunft der Erinnerung“ kennenlernen durften, machte sie mit uns bekannt. Magdas Großvater Ferdinand Duerinckx war unter den 71 Männern, die 1944 zunächst in das KZ Neuengamme deportiert wurden, wo er vor seiner Befreiung verstarb. Zusammen mit Natascha Höhn habe ich mich mit Magda zusammengesetzt um zu erfahren, welchen Platz die Ereignisse von 1944 in ihrem Leben einnehmen: in ihrer Erinnerung, in ihrem Alltag und in ihrem Denken.
Pauline Schweinbach (PSch): Magda, auf welche Art und Weise bist du das erste Mal mit der Ermordung deines Großvaters und dessen Folgen für die Familie in Berührung gekommen?
Magda Duerinckx (MD): Ich habe bereits im Kindesalter begonnen über das Geschehene nachzudenken, denn mein Vater hat sich, seit ich denken kann, intensiv mit dem Thema Krieg auseinandergesetzt. Als ich älter wurde wuchs auch mein Interesse an der Vergangenheit meiner Familie: Immer mehr Fragen tauchten in mir auf. Später begann mein Vater unter anderem die Tradition der jährlichen Fahrten zur KZ-Gedenkstätte Neuengamme. „Unfreiwillig“ wurde ich also im Laufe der Zeit immer näher an die Geschichte gebracht. Man kann sagen, dank meines Vaters bin ich damit groß geworden.
PSch: Kannst du dich auch an die Situation erinnern, in der dein Vater das erste Mal über das Geschehene erzählt hat? Wie hast du dich damals dabei gefühlt?
MD: Es geschah im Laufe meiner Kindheit, ich war etwa neun oder zehn Jahre alt. Damals wusste ich nur, dass mein Großvater von seiner Familie getrennt worden war und dass mein Vater alles mitangesehen hatte. Meine Großmutter und auch mein Vater taten mir deshalb sehr leid. Als Kind war der Mann, über den sie erzählten, nicht mehr als mein Großvater, den ich nie kennenlernen konnte. Ich habe ihn deshalb nie vermisst. Doch mittlerweile komme ich bereits sehr lange einmal im Jahr nach Neuengamme, um die Statue von Meensel-Kiezegem zu besuchen. Jedes Mal muss ich weinen. Je älter ich wurde, desto mehr nahm es mich persönlich mit, denn über die Jahre habe ich mehr Informationen angesammelt.
PSch: Du erwähntest bereits, dass sich dein Vater Oktaaf schon immer mit der Geschichte deines Großvaters beschäftigt hat. Könntest du näher beschreiben, wie sein Engagement in der „Stichting“ aussieht? Welche Aufgaben übernimmst du im Gegensatz dazu?
MD: Mein Vater ist einer der Gründer der „Stichting Meensel-Kiezegem“, die aktuell mit einer anderen Gruppe in der „N.C.P.G.R. Meensel-Kiezegem ’44“ zusammengefunden hat. Die frühere „Stichting“ war vorher für die Organisation der alljährlichen Fahrten nach Neuengamme zuständig, später eröffneten sie ein kleines Museum. Mein Vater hat darüber hinaus ein Doku-Drama über die Ereignisse von 1944 gedreht, in dem auch ich eine kleine Rolle spiele, meine Großmutter. Oktaaf war immer auf irgendeine Weise mit dem Thema Krieg beschäftigt. Doch wie gesagt habe ich sein starkes Engagement früher nicht wirklich realisiert, wie ich es heute tue. Ich begann erst langsam, ihn nach Neuengamme zu begleiten, das Museum zu besuchen, kleinere Aufgaben zu übernehmen. Jeden letzten Sonntag des Monats helfe ich heute im Museum aus, doch nicht als Guide, denn im Gegensatz zu meinem Vater bin ich ein ziemlich schlechter Erzähler. Das Team spielt für mich eine wichtige Rolle, denn es ist das Lebenswerk meines Vaters. Es zu unterstützen ist mein persönlicher erster Schritt.
PSch: Gibt es Momente in denen du denkst, dass dein eigenes Leben durch das Verbrechen an deinem Großvater beeinflusst wurde? Zeigt sich dies vielleicht sogar in Alltagssituationen?
Ich glaube, dies passiert sogar häufig. Ich habe bis jetzt nicht viel darüber nachgedacht, aber wenn ich bei der Arbeit oder mit Freunden zusammen bin, komme ich fast automatisch dazu, die Geschichte zu erzählen. Zum Beispiel wenn ich über meinen Vater spreche und auf einmal viele weitere Fragen gestellt werden. Daraufhin erzähle ich die Geschichte, zumindest soweit ich kann. Auf diese Weise beeinflusst es mich sehr. Oder vor vielen Jahren als ich in einem Bewerbungsgespräch danach gefragt wurde, wer mein Vorbild sei. Sofort schoss mir die Antwort in den Kopf: „Meine Großmutter“. Als sie ihren Ehemann 1944 verschleppten, blieb sie mit dem fünften Kind schwanger zurück, damals unterhielt sie sowohl eine Kneipe als auch einen Einkaufsladen. Ich bewunderte wahnsinnig, wie sie all dies als Witwe schulterte, im Wissen über ihren Verlust. Sie war immer optimistisch, immer. Zumindest seit ich sie kannte. Natürlich war sie den Kindern zuliebe gezwungen, weiterzumachen. Heutzutage nörgelt jeder von uns an vielen Dingen herum, doch mir selbst sage ich immer: Denke zurück an deine Großmutter und all das, was sie getan hat. Jedes Mal gibt mir der Gedanke etwas Energie oder eine positive Denkweise, es hilft mir.
In Zusammenarbeit mit Natascha Höhn.