Am 3. Mai 2023 jährt sich der Jahrestag der Bombardierung der Häftlingsschiffe in der Lübecker Bucht zum 78. Mal. Aus diesem Anlass haben wir ein Interview mit Bernard Jeune geführt. Sein Vater gehörte zu den knapp 7.000 Menschen, die am 3. Mai 1945 beim Untergang der Häftlingsschiffe ihr Leben verloren haben. Als Mitglied der französischen Widerstandsbewegung war der Arzt Eugene Jeune am 20. April 1944 vom berüchtigten Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, verhaftet worden. Ende Juli 1944 wurde er ins KZ Neuengamme deportiert, wo er als Häftlingsarzt im Krankenrevier arbeitete. Wir haben mit Bernard über den Einfluss der eigenen Familiengeschichte, den Umgang mit dieser sowie über die Bedeutung von Erinnerung allgemein gesprochen.
Maren Degener: Mich würde interessieren, in welcher Weise Leben und Arbeit deines Vaters, seine Haft und auch sein Tod dein eigenes Leben beeinflusst haben.
Bernard Jeune: Ich bin in Dänemark. Und ich bin jetzt Däne. Wenn mein Vater zurückgekehrt wäre, wäre ich in Frankreich geblieben und nie Däne geworden. Meine Mutter hat einen dänischen Freund meines Vaters geheiratet, der auch im Konzentrationslager inhaftiert gewesen war. Daher hat es einen sehr fundamentalen Einfluss auf mich gehabt, weil ich die Nationalität gewechselt habe. Ich kam 1949 hierher nach Dänemark, war in der Schule, dann an der Universität und so weiter. Ich bin gebürtiger Franzose, aber nun Däne. Das ist also ein sehr grundlegender Einfluss gewesen.
Maren Degener: Hast du noch Verbindungen nach Frankreich?
Bernard Jeune: Ja. Ich habe eine große Familie mit vielen Cousins und Cousinen. Zweimal im Jahr fahre ich nach Frankreich. Letzten Mai hatten wir ein großes Treffen mit 15 meiner Cousins und Cousinen. Ich sehe sie sehr oft und telefoniere auch mit ihnen. Ich habe also eine Verbindung nach Frankreich. Das liegt vor allem daran, dass meine Mutter die Verbindungen zu meiner französischen Familie aufrechterhalten hat. Wir sind jeden Sommer nach Frankreich gefahren. Ich habe zwar nie gelernt, korrekt auf Französisch zu schreiben – ich mache immer noch einige Grammatikfehler und so weiter -, aber ich bin zweisprachig, kann man sagen. Meine Muttersprache ist Französisch. Erst danach habe ich Dänisch gelernt.
Maren Degener: Hast du jemals überlegt, nach Frankreich zu ziehen?
Bernard Jeune: Ja, ich habe es versucht. Meine Mutter hätte es gerne gesehen, dass mein Bruder und ich nach Frankreich zurückgekehrt wären. Mein Stiefvater ebenfalls. Er war viel älter als sie, 25 Jahre. Er ist wie mein Vater Arzt gewesen. Er kannte ihn aus dem Konzentrationslager. Nachdem er um die Hand meiner Mutter angehalten und sie geheiratet hatte, sind wir nach Dänemark gezogen. Aber er hat auch akzeptiert, dass wir nach Frankreich zurückkehren mussten. 1962 begann ich in Lyon, meiner Heimatstadt, Medizin zu studieren. Aber mir war schon damals bewusst, dass ich das für meine Mutter tat. Weil sie es wollte. Ich wusste, dass ich nach Dänemark zurückkehren würde. Ich war bereits zu sehr Däne geworden. Ich habe in Frankreich angefangen zu studieren, aber mein bester Freund beispielsweise, der hatte in Aarhus begonnen, Medizin zu studieren. Also bin ich nach Dänemark zurückgekehrt, habe dort die Universität besucht und auch mein Medizinstudium dort abgeschlossen.
Maren Degener: Hat die Wahl deines Studienfachs etwas mit deinem Vater, beziehungsweise deinen Vätern, zu tun gehabt?
Bernard Jeune: Ich denke ja. Sowohl mit meinem Vater als auch mit meinem Stiefvater. Mein Stiefvater hat als Allgemeinarzt in Süddänemark praktiziert. In Augustenborg, in der Nähe von Sønderborg und Flensburg. Und dort bin ich auch aufgewachsen. Wenn man so will, war es in meiner DNA angelegt, dass ich anfangen habe, Medizin zu studieren. Aber vielleicht war es auch ein Fehler. Denn bereits zu der Zeit war ich sehr an Literatur und Philosophie interessiert. Ich habe immer Probleme damit, mich nur auf ein Thema zu konzentrieren. Ich lese zu viel und zu breitgefächert. Es ist schwer, während des Medizinstudiums Zeit zu finden, so viel Literatur zu lesen. Ich bin in einer Umgebung gewachsen, in der man sich sehr stark gegen den Faschismus engagiert hat. Und ich glaube, aufgrund dieses Engagements habe ich etwas darüber zu sagen. Ich war auch sehr am Theater interessiert und habe überlegt, Theaterregisseur zu werden. Schon in der Schule habe ich Theaterstücke inszeniert. Aber es war für mich doch zu sehr nach innen gerichtet. Ich musste etwas tun, das nach außen gerichtet war. Wollte engagierter sein. Und Medizin war dafür das richtige Feld. Denn dort konnte ich etwas für Menschen tun. Also, ja, auf diese Weise haben der Beruf meines Vaters wie auch meines Stiefvaters einen großen Einfluss auf mich gehabt.
Maren Degener: Aber es war nicht so, dass du das nur getan hast, weil deine Väter Ärzte waren. War es mehr eine unbewusste Entscheidung, über die du nicht nachgedacht hast?
Bernard Jeune: Nein, es war… Weißt du, in vielerlei Hinsicht ist das Leben vom Zufall bestimmt. Es war ein wenig Zufall, dass ich zum Dänen wurde, weil mein Vater sich im Widerstand engagiert hatte. Wenn er nicht von Klaus Barbie verhaftet worden wäre, wäre ich nie Däne geworden. Auf diese Weise ist das Leben eine Reihe vieler, aufeinanderfolgender Zufällen. Aber gleichzeitig sind diese Zufälle auch eine Art Schicksal. Es war in meiner DNA, Arzt zu werden. Doch ich habe mich auch dafür entschieden. Es war meine freie Wahl, wenn du so willst. Das Leben ist eine Kombination aus Schicksal, „Zufällen“ und freien persönlichen Entscheidungen. Es ist sehr schwer zu sagen, was der entscheidende Aspekt war, der mich dazu gebracht hat, Arzt zu werden.
Maren Degener: Ich habe gelesen, dass du zur Lübecker Bucht gefahren bist. Ich glaube, das war letztes Jahr, oder?
Bernard Jeune: Das war letztes Jahr. Ich war eingeladen, am Denkmal in Neustadt einen Vortrag zu halten. Ich war auch 2010 schon dort. Ich glaube, letztes Jahr war es das dritte Mal, dass ich mit auf dem Schiff in der Lübecker Bucht gewesen bin. Ich war auch schon öfters in Neuengamme, mindestens fünf oder sechs Mal.
Maren Degener: Abgesehen von diesen Besuchen, gibt es noch anderes, wie du deinem Vater gedenkst?
Bernard Jeune: Nein. Ich war erst ein halbes Jahr alt, als er von Klaus Barbie verhaftet wurde. Ich erinnere mich nicht an ihn, bin ihm nie nahe gewesen. Aber jedes Mal, wenn ich seinen Zweig der Familie treffe, denke ich natürlich an ihn. Er hatte zwei Brüder und zwei Schwestern. Eine Schwester starb, bevor ich geboren wurde. Aber die beiden Brüder und die Schwester, meine Tante, kenne ich sehr gut. Ich habe meiner Tante sehr nahegestanden. Sie war seine kleine Schwester, fünf Jahre jünger als er. Auch seinem älteren Bruder, der ebenfalls Arzt war, habe ich sehr nahegestanden. Er war sieben Jahre älter als mein Vater. Diese beiden habe ich jedes Jahr getroffen, manchmal sogar zweimal im Jahr. Indem ich seiner kleinen Schwester und seinem älteren Bruder nahe war, war ich auch meinem Vater nahe.
Maren Degener: Gibt es besondere Dinge oder Rituale, die du zum Beispiel am 3. Mai machst? Sitzt ihr zum Beispiel als Familie zusammen und gedenkt deinem Vater?
Bernard Jeune: Nicht wirklich. Mein Onkel, der Arzt, Professor für Kindermedizin – Mathis, sein älterer Bruder – hatte am 3. Mai Geburtstag, dem Tag, an dem mein Vater starb. Und deswegen hat er nie seinen Geburtstag gefeiert. Nie! Dadurch haben wir am Geburtstag meines Onkels an meinen Vater erinnert. Wir konnten Hallo sagen, ihm Glückwünsche überbringen und so weiter. Aber wir wussten, dass es ihm Kummer bereitet hat. Und ich erinnere mich, dass wir während meiner Kindheit in den 1950ern immer mit meinem Stiefvater im Auto nach Frankreich in den Urlaub gefahren sind. Einmal waren wir Anfang der 1950er in Neustadt. Da gab es kein Denkmal wie in Neuengamme. Nichts gab es dort. Wir sind zum Strand gegangen, wohin sich einige, die der ‚Cap Arcona‘ entkommen waren, gerettet hatten. Und wir sahen, dass es dort nur einen Campingplatz gab. Das war das einzige Mal, dass wir zu Lebzeiten meines Stiefvaters dort waren. Das einzige Mal! Mein Stiefvater fuhr nie nach Neuengamme. Nicht einmal, nachdem sie dort begonnen hatten, das Denkmal zu errichten. Ich erinnere mich, dass wir, wenn wir in den 1950ern nach Frankreich fuhren, bis in die Niederlande durchgefahren sind. Denn mein Stiefvater hätte niemals in einem deutschen Hotel geschlafen. Er hatte einen guten Freund in Arnheim in den Niederlanden, der auch im KZ Neuengamme gewesen war. Wir sind also direkt von Augustenborg/Sønderborg nach Arnheim durchgefahren, um nicht in Deutschland übernachten zu müssen.
Maren Degener: Hat dein Stiefvater damals mit dir über deinen Vater gesprochen?
Bernard Jeune: Nein. Bei meiner Hochzeit 1966 hat er eine Rede gehalten, um uns zur Heirat zu gratulieren. Und in dieser Rede hat er meinen Vater und das, was sie in Neuengamme erlebt hatten, erwähnt. Dabei hat er ein wenig geweint. Soweit ich mich erinnere, war das das einzige Mal, dass er über meinen Vater gesprochen hat. Und ich habe ihn nicht gefragt, da er es nicht mochte, wenn er nach seinen Erlebnissen in Neuengamme gefragt wurde. Diese Generation mochte über so etwas nicht sprechen. Mit meiner Mutter war es fast genauso. Selbstverständlich habe ich mit ihr gesprochen, aber nicht sehr viel. Ich bereue es, dass ich damals nicht mehr Druck gemacht habe. Aber ich habe das noch öfter erlebt. Ich habe eine französische und auch eine dänische Familie, bei denen Familienmitglieder in Neuengamme, Ravensbrück und Buchenwald gewesen sind. Und wir haben nie darüber gesprochen. Sie wollten nicht darüber sprechen. Ich erinnere mich an die Cousine meiner Mutter, die in Ravensbrück war. Sie war im Widerstand in Clermont-Ferrand, in der Auvergne. Wie meine Mutter in ihrer Jugend. Ich habe diese Cousine sehr oft besucht, als sie alt war. Sie ist mit 95 gestorben. Während ihres letzten Lebensjahres habe ich versucht, mit ihr zu sprechen. Sie hat es versucht, aber es war zu schwierig für sie. Sie war zu alt, als dass sie noch darüber sprechen mochte. Das Gleiche mit meiner Mutter. Es war zu spät. Ich hätte darauf beharren sollen, als ich noch jünger war. Doch wenn du jünger bist, lebst du dein Leben. Man muss etwas älter sein, um jemand zu sein, der mehr wissen möchte. Als ich sie gedrängt habe, um mehr zu erfahren, war es zu spät. Sie hatten zu viel Angst, um darüber zu sprechen. Ich bereue es, dass ich nicht weiß, was mein Vater genau in der Widerstandsbewegung gemacht hat. Er war Mitglied eines Netzwerks namens ‚Perikles‘. ‚Perikles‘ war Teil der großen Widerstandsbewegung ‚Combat‘ in Frankreich. Während meiner Kindheit in den 1950ern haben wir mehrere Male Lise Lesèvre besucht. Sie war eine französische Widerstandskämpferin, die gegen Klaus Barbie ausgesagt hat. Meine Mutter war auch eingeladen, um gegen Klaus Barbie auszusagen. Aber sie wollte das nicht. Sie sagte: „Dort werde ich nicht hingehen.“ Ich habe das kleine Buch von Lesèvre gelesen. Das und die Gespräche mit ihr sind meine einzigen Quellen. Und andere kleine Bücher, die von jemanden namens Rendu und einem jüngeren Arzt, der in Buchenwald war, geschrieben wurden. Dadurch habe ich ein wenig darüber herausgefunden, was mein Vater gemacht hat. Aber meiner Meinung nach nicht genug. Ich bereue es ein bisschen, dass ich diese Leute nicht nach mehr Details von seiner Arbeit für den Widerstand gefragt habe. Das ist eine Sache, an die ich von Zeit zu Zeit denke. Eine andere Sache, über die ich oft nachdenke, ist, wie er wohl auf der ‚Cap Arcona‘ ums Leben gekommen ist. Das ist nichts, von dem ich Albträume bekomme. Aber im Traum denke ich oft darüber nach. Rendu, einer der Widerstandskämpfer, der überlebte und ein kleines Buch über Neuengamme verfasst hat, hat meiner Mutter einen Brief geschickt. Darin schreibt er, dass er, während er die Treppen auf der ‚Cap Arcona‘ nach oben kletterte, um ins Wasser zu springen, meinen Vater gesehen hat. Er sah, wie mein Vater einige Patienten mit Verbrennungen behandelte. Es gab ein kleines ‚Revier‘ oben auf der ‚Cap Arcona‘. Rendu sah ihn und verabschiedete sich von ihm. Und natürlich konnte mein Vater nicht schwimmen. Also konnte er gar nicht springen. Aber er war auch Arzt. Auch deswegen konnte er nicht springen. Wenn man Arzt ist, muss man diejenigen, die Hilfe benötigen, behandeln. Ich denke, dass er aus diesem Grund an Bord geblieben ist. Aber vielleicht hat auch die Tatsache, dass er nicht schwimmen konnte, zu seiner Entscheidung beigetragen, auf dem sinkenden Schiff zu bleiben. Ich denke oft darüber nach, wie er gestorben ist. Ist er ertrunken oder verbrannt oder so? Und was ist mit seiner Leiche passiert? Wurde sie in Neustadt oder irgendwo in der Nähe von Lübeck angespült? Das sind einige der Dinge, die ich mich von Zeit zu Zeit frage. Aber es ist nichts, was mich stark beunruhigt. Es ist nur etwas, was ich gerne gewusst hätte.
Maren Degener: Ist die Geschichte deines Vaters etwas, was du mit deinen Kindern teilst? Ich denke, deine Enkel sind wohl noch zu jung dafür?
Bernard Jeune: Meine Enkel wussten, dass ich letztes Jahr in Neustadt war, um eine Rede zu halten. Das war der Zeitpunkt, wo sie angefangen haben, Fragen zu stellen. Ich hatte die Rede meinen Kindern geschickt. Und die haben mit ihren Kindern darüber gesprochen. Meine Kinder haben mich natürlich gefragt. Sie wissen, was ich weiß. Und all das, was ich geschrieben habe und was ich einer dänischen Zeitung erzählt habe. Und sie haben auch mit meiner Mutter darüber gesprochen. Sie kannten meine Mutter sehr gut. Einige Details weiß ich von ihnen. Ihnen gegenüber war sie ein wenig offener. Aber nicht sehr viel. Sie haben keine präzisen Angaben von ihr bekommen.
Maren Degener: Mich würde auch interessieren, was du generell über das Teilen von Erinnerungen denkst, nicht nur innerhalb der Familie, sondern auch öffentlich. Warum ist es so wichtig, sich an die Vergangenheit zu erinnern?
Bernard Jeune: Ich glaube, meine Kinder waren bis jetzt noch nie in Neuengamme. Sie sagen aber, dass sie gerne dorthin gehen würden. Aber weißt du, sie haben ihr eigenes Leben. Ich war viele Jahre lang nicht sehr offen, wenn es darum ging, meine Gedanken zu dem Thema mitzuteilen. 2015, als viele Flüchtlinge nach Deutschland und Dänemark kamen, fragte mich ein Journalist, ob ich meine Familiengeschichte erzählen würde. Anfangs habe ich nein gesagt. Aber dann hat einer meiner Kollegen von der Süddänischen Universität, der zum Thema Holocaust forscht, mich und jemand anderen von der Universität gebeten, in einem seiner Seminare über unsere Familiengeschichten zu berichten. Wir beide waren zu der Zeit die Einzigen an der Universität, deren Väter im Widerstand gewesen waren. Also habe ich dort einen Vortrag gehalten, einen sehr langen. Und dann hat dieser Journalist von einem der Zuhörer von meinem Vortrag und dem Seminar erfahren. Er sagte mir, wie relevant meine Familiengeschichte für die Flüchtlinge wäre, die 2015 aus Syrien und anderen Teilen der Welt kamen. Dieses Argument hat mich überzeugt. Ich stimmte zu, meine Geschichte mit ihm zu teilen. Die Situation mit dem gegenwärtigen Krieg in der Ukraine erinnert mich auch daran. Als sie Mariupol bombardiert haben, hat mich das an die Bombardierung in der Lübecker Bucht erinnert. Also, in dieser Hinsicht ist das Erinnern sehr wichtig, denn aufgrund des Kriegs in der Ukraine ist es aktueller denn je.
Maren Degener: Denkst du, dass es in diesem Fall wichtig ist, über die Vergangenheit zu sprechen? Hilft es uns, die Gegenwart oder die Zukunft zu verstehen, wenn wir über die Vergangenheit Bescheid wissen und uns ihrer erinnern? Du hast den Krieg gegen die Ukraine erwähnt. Denkst du, dass es eine Verbindung zwischen diesen Dingen gibt?
Bernard Jeune: Ich weiß nicht, was ich antworten soll. Ich weiß nicht, ob es hilft. Es ist nur etwas, worüber du nachdenkst. Geschichte wiederholt sich niemals auf dieselbe Weise. Aber es ist da, eine Form des Erinnerns nach dem Motto ‚jetzt wieder‘. Es zeigt uns, dass Menschen nichts aus der Geschichte lernen. So gesehen ist es eine Erinnerung daran, wie töricht wir sind. Es geht nicht so sehr darum, uns beim Verstehen zu helfen, sondern mehr um die Frage „Warum können wir nicht von der Vergangenheit lernen?“. Vielleicht könnte es einer Familie wie der meinen helfen, in der es Familienmitglieder gibt, die so etwas durchgemacht haben. Es gibt in der Ukraine viele Familien mit Großeltern, die sich noch an den Zweiten Weltkrieg erinnern können. In diesem Fall könnte es sehr hilfreich sein, über die Vergangenheit zu sprechen. Was jetzt in der Ukraine passiert, ist barbarisch. Man kann es mit der Zeit vergleichen, als die Nazis dort waren. Dort werden Kriegsverbrechen begangen. Aber wie man weiß, gab es in der Ukraine auch viele, die die Nazis und das Nazi-Regime unterstützt und mit ihnen zusammengearbeitet haben. Ich erinnere mich, dass einer der Gründe, warum meine Mutter nicht im Prozess gegen Klaus Barbie aussagen wollte, war, dass sie sagte, es habe auch innerhalb der Widerstandsbewegung Probleme gegeben. Wie im Fall vom Jean Moulin, dem Anführer des französischen Widerstands, der von jemandem verraten wurde, der Mitglied des Komitees gewesen war. Klaus Barbie wusste von diesen Problemen. Und ein Teil der französischen Widerstandsbewegung mochte diesen Prozess nicht, weil er viele Konflikte in der Widerstandsbewegung hätte aufdecken können. Ich glaube nicht, dass meine Mutter einige dieser Verräter kannte. Aber ich denke, das spielte da auch mit rein, dass es nicht allen gefiel. Das könnte auch in der Ukraine ein Problem sein. Daher kann es zwar hilfreich sein, aber auch negative Folgen nach sich ziehen.
Maren Degener: Ich mache oft Führungen mit Schulklassen durch die KZ-Gedenkstätte in Neuengamme. Für sie ist es lange her. Was soll ich ihnen sagen? Warum ist es so wichtig, Neuengamme zu besuchen und etwas über die Geschichte zu erfahren?
Bernard Jeune: Ich denke, dass es wichtig ist, das zu wissen. Überall. Ständig. Für alle Menschen und in jeder Umgebung. Wir wissen, dass jederzeit schlimme Dinge geschehen können. Man kann jederzeit ein barbarisches System errichten. Wir haben das in Serbien, in Jugoslawien gesehen. Wir sehen das nun in der Ukraine mit dem Krieg, der dort herrscht. Daher ist es wichtig, dass Kinder immer wissen, dass Dinge passieren können. Dinge können sich ändern. Und Dinge können sich zum sehr, sehr Schlechten verändern.