Am 18. und 19. März 2016 bietet die KZ-Gedenkstätte Neuengamme Nachkommen von NS-Verfolgten die Möglichkeit, im Rahmen des Seminars Angehörigenseminar 18. und 19. März 2016 in einen zukunftsgerichteten Austausch miteinander zu treten. Dr. Oliver von Wrochem (OvW), Leiter des Studienzentrums der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, sprach mit Swenja Granzow-Rauwald (SGR) und Victoria Evers (VE), die das Seminar konzipiert haben und es als Moderatorinnen leiten werden, über den besonderen Charakter dieser geplanten Begegnung.
OvW: Könnt ihr bitte das Konzept des Angehörigenseminars erläutern?
SGR: Wir wollen die Nachkommen von NS-Verfolgten miteinander ins Gespräch bringen über ihre Wünsche und Bedürfnisse in Bezug auf das Erinnern innerhalb der Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis und in der Öffentlichkeit. Der Kampf und die Leiden der Verfolgtengeneration sind dabei die Basis für das Zusammenkommen. Allerdings geht es uns nicht um ein Nacherzählen der Familiengeschichte während der NS-Zeit, sondern um die Art und Weise wie die Teilnehmer_innen durch das, was nach dem Krieg weitergegeben wurde bzw. nicht weitergegeben wurde, geprägt sind. Die zwei Seminartage bieten einen geschützten Rahmen, während der frei gesprochen werden kann.
VE: Wir möchten den Nachkommen von Familien, die ganz unterschiedliche Verfolgungsschicksale erlebt haben, die Möglichkeit geben, die Auswirkungen der Verfolgungsgeschichte auf ihr eigenes Leben zu reflektieren und ihre Erfahrungen als Basis für ein gemeinsames Einmischen in die gegenwärtige Erinnerungskultur zu nutzen. Uns ist dabei besonders wichtig, offen zu thematisieren, dass es insbesondere in der Nachkriegszeit, aber durchaus auch heute noch, das Gefühl von ausgegrenzt sein in den Familien der Verfolgten gegeben hat bzw. gibt.
OvW: Gibt es bereits Erfahrungen mit solchen Angehörigenseminaren?
VE: Im Prinzip sind alle Veranstaltungen der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, an der Nachkommen von Verfolgten teilnehmen, auch Orte des Austausches zwischen ihnen, nur eben nicht in einem geschützten oder strukturierten Rahmen. Im Jahr 2010 fand aber erstmals eine Tagung in der Gedenkstätte Neuengamme statt, die explizit die Weitergabe in den Familien thematisierte, dort ist der Perspektive der Nachkommen Raum gegeben worden. 2010 reisten aber mit den Nachkommen auch die Verfolgten selbst an, so dass der Fokus nicht ausschließlich auf den Nachkommen und ihren ganz persönlichen Erfahrungen lag.
SGR: 2011 wurde erstmals ein Seminar zur transgenerationalen Überlieferung von Verfolgung angeboten, an dem jedoch nicht nur Nachkommen von Verfolgten teilnahmen. 2014 wurde im Vorfeld der Gedenkfeiern im Mai ein erstes Treffen von Nachkommen mit einer Psychologin als Moderatorin angeboten. Die Teilnehmenden waren hoch erfreut, so dass es 2015 eine ähnliche Veranstaltung in weitaus größerem Rahmen gab. Obwohl alle glücklich über die Begegnung waren, war klar, dass bei so vielen Teilnehmer_innen und zwei Stunden Zeit kein wirklicher Austausch entstehen konnte. Auch war durch die psychologische Schulung der Moderator_innen, die selbst keine Nachkommen von Verfolgten waren, den Gesprächen eine bestimmte Richtung gegeben worden.
VE: Als Enkelinnen von Überlebenden des KZ Neuengamme, die wir nicht Psychologie, sondern Geschichts- bzw. Politikwissenschaft studiert haben und seit vielen Jahren im Bereich der Gedenkstättenpädagogik arbeiten, wählen wir einen ganz anderen Zugang zum Austausch. Wir greifen dabei insbesondere auch zurück auf die vielen persönlichen Begegnungen mit Nachkommen in unterschiedlichen Gedenkstätten, z.B. bei privaten Führungen zu den Orten, die während der Inhaftierung ihrer Familienmitglieder eine Rolle gespielt haben.
SGR: Wir forcieren keine emotionale Auseinandersetzung, gleichzeitig ermöglicht uns der Zeitrahmen von zwei Tagen Raum dafür zu schaffen, wenn es Bedarf gibt.
OvW: Wie sieht das genaue Programm für die zwei Tage aus?
VE: Ausgangspunkt für den Austausch ist natürlich, einander zu vertrauen. Beim Kennenlernen werden die Verfolgungserfahrungen der Familien eine Rolle spielen, aber es geht hauptsächlich um das heutige Leben der Teilnehmer_innen. Bei der Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte an diesem Tag steht im Vordergrund, welche Wünsche und Gedanken die Teilnehmer_innen gegenüber ihren Verwandten verspüren.
SGR: Am zweiten Tag spielen die „Erinnerungsobjekte“, die wir alle Teilnehmer_innen bitten mitzubringen, eine wichtige Rolle. Sie sind der Ausgangspunkt für die Reflektion des Erinnerns in der eigenen Familie und der Frage, ob diese Art des Umgangs den Bedürfnissen der Teilnehmer_innen entspricht. Weil das private Erinnern weit über den Familienkreis hinausgeht, bitten wir die Teilnehmer_innen, ihre Erfahrungen in Bezug auf den Umgang mit dem Erinnern in ihren Freundes- und Bekanntenkreisen zu teilen. Bevor es dann zu einem gemeinsamen Rundgang über das Gelände der KZ-Gedenkstätte Neuengamme geht, blicken wir gemeinsam auf das öffentliche Erinnern. Im Anschluss an den Rundgang geht es dann um das Formulieren von Ideen für ein zukünftiges Erinnern, gerade im öffentlichen Bereich, aber auch in Familie und privaten Umfeld. Die Teilnehmer_innen bestimmen am Ende des Seminars selbst, ob sie sich zum Vorantreiben neuer Projekte vernetzen wollen.
OvW: Vielen Dank. Es ist ein großes Anliegen der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, enger mit den Nachkommen der Verfolgten auf der ganzen Welt zusammenzuarbeiten. Sie sind aufgrund ihrer Familiengeschichte wichtige Träger der Erinnerung an die NS-Verfolgung und seine Folgewirkungen. Ihr Engagement für ein aktives Erinnern stärkt gerade in der Zeit nach der Erlebnisgeneration unsere Arbeit, denn es wird damit deutlich, dass die Vergangenheit in die Gegenwart hineinwirkt – und zwar nicht nur für die Nachkommen, sondern für uns alle. Wir hoffen, dass euer Seminar viele Nachkommen motiviert, sich stärker in die Erinnerungskultur einzumischen und diese mitzugestalten.