Über den Dialog zwischen den Nachkommen von verfolgten und den Nachkommen von NS-Tätern. Ein Interview mit Yvonne Cossu-Alba und Ulrich Gantz
Die Internationale Akademie der Nürnberger Prinzipien veranstaltete in der Woche vom 15. bis 20. August 2016 eine Sommerakademie mit dem Titel „Erziehung in der Folgezeit nach einem Konflikt: Lernen aus der Vergangenheit?“ Die Teilnehmer diskutierten miteinander über die Rolle von Erziehung und Bildung in Gesellschaft nach einem Konflikt. Dabei lag der Fokus besonders darauf, beide Seiten des Konflikts ins Gespräch miteinander zu bringen. Yvonne Cossu-Alba, die Tochter eines Mitglieds der französischen Résistance, der 1945 in einem Außenlager des KZ Neuengamme starb, und Ulrich Gantz, dessen Vater während des Krieges in der Ordnungspolizei war, waren eingeladen, mit den Teilnehmern der Sommerakademie über ihre Erfahrungen mit dem Dialog von Angehörigen von Verfolgten und denen von Tätern, wie die KZ-Gedenkstätte Neuengamme ihn durchführt, zu berichten.
Swenja Granzow-Rauwald sprach mit ihnen nach ihrer Rückkehr.
Swenja Granzow-Rauwald (SGR): Politisch seid Ihr beide in der Nachkriegszeit groß geworden. Welche Momente waren entscheidend für Eure Sicht auf den Zweiten Weltkrieg und das Verhältnis zwischen Deutschland und den anderen europäischen Ländern in der Zeit danach?
Ulrich Gantz (UG): Als ich vor 50, 60 Jahren zur Schule ging wurde der Zweite Weltkrieg nicht im Unterricht behandelt. Ich erinnere mich aber, dass wir jedes Mal im November an den offiziellen Feierlichkeiten zum Volkstrauertag teilnehmen mussten, bei denen der gefallenen Soldaten gedacht wurde. Seitdem hat sich meine Sicht über die Jahre Schritt für Schritt verändert, hauptsächlich durch Bücher.
Eine Reise nach Minsk, die ich vor zwei Jahren machte, hat noch einmal zu einer einschneidenden Veränderung in meiner Sichtweise geführt. Ich habe die Gedenkstätte Chatyn und ihren „Friedhof der Dörfer“ besucht.
Mir wurde klar, dass allein in Weißrussland etwa 600 Dörfer niedergebrannt wurden von Deutschen Truppen und ihren Kollaborateuren, davon wurden 186 Dörfer komplett ausgelöscht und 433 wieder neu aufgebaut. Das war blanker Terror, kein heldenhafter Kampf.
Yvonne Cossu-Alba: Ich habe auf der Schule nichts über den Zweiten Weltkrieg gelernt. Er war ja gerade erst vorbei und stand noch nicht auf dem Lehrplan. Stattdessen habe ich nur aus meinem unmittelbaren Erleben gelernt, also ganz offensichtlich durch das Schicksal meiner Familie. Mein Vater fiel direkt den Nazis zum Opfer. Meine Ansichten ändert sich als ich als Erwachsene mit anderen Leuten darüber sprach, insbesondere mit meinem Ehemann, der Deutsch studiert hatte und in Deutschland gewesen war.
Das half mir alles etwas objektiver zu sehen und zwischen den Deutschen und den Nazis zu unterscheiden.
SGR: Ihr wurdet zur Sommerakademie eingeladen wegen des Dialog-Workshops, der dazu geführt hat, dass Ihr Euch begegnet seid und dann Freunde wurdet. Kann bitte jeder von Euch etwas über ihre/seine Erfahrung mit dem Dialog zwischen Nachkommen der Verfolgten und Tätern der NS-Zeit sagen?
YCA: Wir fuhren zur Sommerakademie in Nürnberg um über einen Dialog zwischen Personen aus den ehemals verfeindeten Parteien eines Konflikts zu berichten; um zu zeigen, dass so ein Dialog möglich ist und um zu verstehen, warum er möglich ist. Bei den Dingen, die ihn möglich machen, würde ich Offenheit auf die erste Stelle setzen, die Bereitschaft, andere unvoreingenommen zu sehen, alle Menschen als gleichwertig zu sehen, egal welche Hautfarbe, welche Religion oder andere sichtbare oder unsichtbare Unterschiede sie haben.
Wenn wir dieselbe Sicht auf Menschen haben, wird es leichter, einen Dialog aufzubauen und die Vergangenheit so objektiv wie möglich zu analysieren.
Gleich zu sein bedeutet, dass beide Seiten das Beste und das Schlimmste hervorbringen können. Und wie unser gemeinsamer Freund Jean-Michel Gaussot es formuliert: Wir sind keine Helden, weil unsere Väter Helden waren, und wir sind keine Täter weil unsere Väter Täter waren. Natürlich hilft es den Nachkommen der Verfolgten sehr, dass der Nachkomme eines Täters die Taten seines Vaters verurteilt. Ich muss sagen, ich habe großen Respekt vor dieser Haltung und bewundere sie. Ich vermute, dass sie einem nicht leicht fällt. Ich hätte mit Sicherheit anders reagiert im Kontakt mit jemandem, der weiterhin zu den Taten und der Weltanschauung seines Vaters steht. Aber auch dann hätte ich einen Dialog nicht verweigert; ich hätte versucht zu diskutieren und die Gründe für dieses Verhalten zu analysieren und hätte erklärt, wo und warum ich anderer Meinung bin. Schweres persönliches Schicksal und das daraus resultierende seelische Leiden kann ein Hindernis sein, weil ein solcher Dialog alte Schmerzen wieder lebendig machen und die damit verbundenen Gefühle an die Oberfläche bringen kann. Ich glaube auch, dass ein „Dialog“ – d.h. zwischen zwei Personen – einfacher ist als ein Gespräch mit mehreren, zumindest als erster Schritt.
UG: Ein Hindernis ist schlicht und einfach: Sprache. Zum Beispiel gibt es in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme beim Forum „Zukunft der Erinnerung“ eine Vielfalt von Sprachen. Nicht jeder spricht fließend Englisch, ganz wenige beherrschen osteuropäische Sprachen wie Polnisch oder Russisch. Ich würde auch die Erwartungen niedrig hängen. Wenn man einen solchen Dialog etwa mit einer Diskussion über Vergebung und Versöhnung beginnt, bringt man ihn sofort zum Explodieren.
Was ich hilfreich finde: genug Zeit, einen sicheren Ort, Regeln und möglichst eine gleiche Anzahl Teilnehmer von jeder Seite. Die Teilnehmer am Dialog sollten schon vorher eine klare Position zur ihren Vorfahren und zur Vergangenheit erarbeitet haben.
SGR: Könnt Ihr bitte etwas darüber sagen, wie es war, gemeinsam mit jemandem “von der anderen Seite” historische Orte mit Bezug zum NS-Regime zu besuchen?
UG: Eine Gruppe des Freundeskreises der KZ-Gedenkstätte Neuengamme ist in diesem Frühjahr nach Südfrankreich und Spanien gereist. Wir haben die Gedenkstätte des ehemaligen Lagers Rivesaltes und andere Orte besucht, die während der deutschen Besetzung Frankreichs und während und nach dem Spanischen Bürgerkrieg, als innerhalb weniger Wochen Hunderttausende über die Grenze nach Frankreich flohen, eine Rolle spielten. Yvonne Cossu hat uns auf dieser Reise begleitet und auch Jean-Michel stieß für zwei Tage zu uns.
Einerseits machte es keinen Unterschied, dass Yvonne und Jean-Michel dabei waren – die Orte waren einfach furchtbar, man konnte ihre Geschichte unmittelbar spüren – und gleichzeitig war es etwas sehr Besonderes. Ich kann eigentlich gar nicht so genau beschreiben, was „besonders“ in diesem Zusammenhang bedeutet. Mich haben zwei Abende in La Coûme sehr beeindruckt. Das ist ein Ort, der früher eine Schule und ein Versteck für jüdische Kinder war. Am ersten Abend erzählte Yvonne von ihrem Vater und ihrer eigenen Geschichte. Am zweiten Tag erzählte ich von dem Dialogseminar in Neuengamme. An beiden Abenden war die Vergangenheit gegenwärtig und gleichzeitig war eine tiefe Verbundenheit zwischen den Leuten in dem Raum, egal von welcher Seite sie kamen.
YCA: In dem berüchtigten Internierungslager Rivesaltes hielt die Vichy-Regierung ab 1941 Flüchtlinge aus Spanien, Juden, Sinti und Roma fest. Von dort wurden die meisten in Konzentrations- oder Vernichtungslager in Deutschland, Polen und Österreich geschickt (die spanischen Republikaner nach Mauthausen). Faschismus, Nationalsozialismus und die französische Kollaborationsregierung haben auf genau die gleiche gewalttätige Art und Weise versucht, ganze Bevölkerungen auszulöschen. Und sowohl auf französischem als auch auf spanischem Gebiet konnten wir sehen, wie Menschen sich diesen Regimes widersetzt haben, Widerstandsgruppen gründeten, Menschen über die Grenze halfen um einer Verhaftung zu entgehen und einen Weg ins Exil zu finden (nach Frankreich für viele Spanier und in die Vereinigten Staaten für die, die aus dem besetzten Frankreich flohen). Diese Orte mit Leuten „von der anderen Seite“ zu besuchen machte für mich keinen Unterschied. Wir haben alle etwas über die Untaten erfahren, die in verschiedenen Ländern begangen wurden.
SGR: Was habt Ihr von dem Austausch mit den anderen Teilnehmern der Sommerakademie mitgenommen?
YCA: Als erstes hoffe ich, dass ihnen unser Gespräch etwas gebracht hat. Ich glaube, einige der Teilnehmer wussten nicht viel über den Krieg in Europa, die Besetzung Frankreichs und die Konzentrationslager in Deutschland. Für viele bestand der Zweite Weltkrieg im Wesentlichen aus dem Holocaust, sie kannten Auschwitz, aber das war es auch. Aus ihren Reaktionen entnehme ich, dass sie es gut fanden etwas über die Résistance in Frankreich und den Widerstand in Deutschland zu hören (womit Einige natürlich vertraut waren). Sie waren sehr daran interessiert, wie der Dialog zustande gekommen war und wir haben von der Arbeit der Gedenkstätte und dem Forum „Zukunft der Erinnerung“ berichtet. Und sie waren sehr daran interessiert, wie Ulrich von der Vergangenheit seines Vaters erfahren hat und wie er mit diesem Wissen umging. Sie haben mich auch gefragt, warum ich so lange über die Deportation meines Vaters geschwiegen habe.
Es kam eine Frage nach „Vergebung und Versöhnung“, die wir mangels Zeit nicht beantworten konnten. Ich persönlich denke, dass diese zwei Begriffe nicht auf einer persönlichen Ebene, sondern vielleicht in einem größeren, nationalen Rahmen, z.B. zwischen zwei Ländern, verhandelt werden sollten (wie man es am Beispiel von de Gaulle und Adenauer oder Mitterand und Kohl sieht).
UG: Das große Interesse an dem Gespräch zwischen Daniel Fernandez Fuentes (dem Moderator), Yvonne Cossu und mir hat mich überrascht. An der Sommerakademie haben Menschen aus der ganzen Welt teilgenommen, aus dem früheren Jugoslawien, Lateinamerika, Südafrika, Israel, Palästina, Zypern und Rwanda. Und selbst diese Auflistung ist nicht vollständig. Einige der Teilnehmer sagten, dass unser Beispiel ihnen Hoffnung für ihr eigenes Land gibt. In der anschließenden Diskussion kam dann das Thema „Versöhnung“ auf. Ich habe da sofort sehr deutlich vertreten, dass die Ermordung von 52.000 Menschen (wie im Fall meines Vaters) nicht vergeben werden kann. Im Nachhinein bedaure ich es, so schnell und heftig reagiert zu haben, weil das unmittelbar die Diskussion zu diesem Thema beendet hat. Dadurch habe ich die Gelegenheit verpasst, die Sichtweise und die Erfahrungen zu diesem Thema zu hören, die die anderen Menschen in diesem Raum hatten. Sie hätten viel dazu sagen können. Etwas Besonderes passierte kurz nach der Sommerakademie. Bei der Akademie waren Menschen aus Kolumbien, die aktiv die Friedenserziehung an Schulen erarbeitet hatten, und andere, die in einer offiziellen Kommission die gewalttätigen letzten 50 Jahre in ihrem Land untersuchten. Ende August hat die Regierung Kolumbiens mit den FARC-Rebellen einen Friedensvertrag geschlossen, der den 50 Jahren Gewalt ein Ende setzen soll. Für mich ist das eine inspirierendes Beispiel aus dem richtigen Leben wie ein Volk sich von Auseinandersetzung und Gewalt zum Frieden bewegt.
SGR: Welchen Rat würdet Ihr Leuten geben, die Interesse daran haben, an einem Dialog zwischen den Nachkommen von NS-Verfolgten und NS-Tätern teilzunehmen? Welche Rolle sollten Schulen oder Universitäten bei der Vorbereitung eines solchen Dialogs spielen?
UG: Mein Rat? Ich weiß nicht.
Nicht zu viel erwarten. Einfach zuhören.
YCA: Wenn du Nachkomme eines “Opfers” bist, ist mein erster Rat, in einem solchen Dialog nicht zu vergessen, dass die Person, die Dir gegenüber sitzt und mit der Du redest nicht schuldig ist. Er oder sie hat bestimmt mit sich selbst zu kämpfen, diese Geschichte zu offenbaren.
Es ist nicht einfach die eigenen Eltern „anzuklagen“. Das erfordert Mut und ein starkes Gefühl von Verantwortung und moralischer Verpflichtung.
Wir alle haben unsere eigenen, persönlichen Erinnerungen. Zu ihnen gehört das Risiko, dass sie verfälscht sein können und auch ein Mangel an Objektivität. Wir müssen bereit sein, dass zuzugestehen. Es wäre ratsam, dass Historiker sich unsere Aussagen noch einmal ansehen und eventuell entsprechend den tatsächlichen Fakten korrigieren. Eine wichtige Sache, über die wir (und natürlich auch Lehrer und Schüler) nachdenken sollten: wie konnte es passieren, dass so viele Menschen unter den Einfluss der Nazi-Propagande gerieten (oder sollten wir sagen ihr „Opfer wurden“)? Wie haben sie ihren kritischen Verstand verloren und wie konnten einige von ihnen zu Tätern werden? Reden können gefährlich sein und wir sollten analysieren, welchen Lügen hinter wunderschönen Worten und toller Rhetorik liegen – und das gilt in vielen Ländern auch noch heute.
Das, was man erlebt hat, weiter zu geben, bedeutet, dass man für die Zukunft handelt: durch unsern Dialog müssen wir zeigen, was die Folgen von Reden und Handeln sein können, wir müssen dazu ermutigen, die Fakten zu analysieren und die Schlussfolgerungen aus ihnen zu ziehen um zu verhindern, dass sich solche Konflikte wiederholen.
Das gehört zur Erziehung und Bildung, und vielleicht ist das eher eine Grundlage zum Nachdenken nach dem Dialog als vorher zur Vorbereitung.
Aus dem Englischen übersetzt von Ulrich Gantz.