Eine Familie wie jede andere auch
Kennt Ihr noch Graupensuppe? Oder gab es Apfelsinen bei Euch auch nur an Weihnachten? Wir hatten unser erstes Telefon, da war ich so 10 Jahre alt. Es gab nur drei Fernsehprogramme. Mittags war drei Stunden Sendepause und Schluss war, glaube ich, um 0 Uhr mit der Nationalhymne.
Wir waren viele Kinder. Spielen, ja die ganze Kindheit, fand draußen statt. „Geschichtenball“, „Länder verteilen“, Gummitwist, „Jungs die Mädchen“ u.s.w. haben wir gespielt. Es war normal, dass in jeder Familie mindestens drei Kinder waren. Weniger war die Ausnahme. Meine Mutter war Hausfrau. Mein Vater war Hafenarbeiter. Auch normal in meiner frühen Kindheit.
Bei vielen Gleichaltrigen, ich bin 1964 geboren, treiben solche Berichte ein Lächeln ins Gesicht. Gern kommen wir darüber ins Gespräch.
Wäre da nicht mein Vater
Meine Tochter, Jahrgang 1995, hört mir sehr gern zu, wenn ich erzähle. Oft lacht sie dann und stellt viele Fragen. Auch ich kenne aus meiner Kindheit und Jugend das große Interesse, meinen Eltern zuzuhören. Wie war Eure Kindheit und Jugend? Meine Eltern haben erzählt, dass ich viele Fragen gestellt habe. Ich versuchte mir alles vorzustellen und glich das Gehörte mit meiner Lebenswirklichkeit ab.
Oft waren ihre Berichte geprägt von Entbehrungen. Hunger, Mangel an Kleidung und Gesundheitsversorgung oder an der Möglichkeit, mehr bzw. höhere Bildung zu erlangen, wurden beschrieben. Meine Mutter, Jahrgang 1927, war noch klein während der Weltwirtschaftskrise. Ein Schulkind und junges Mädchen in der Zeit des Nationalsozialismus.
Mein Vater, Jahrgang 1909, erlebte als kleiner Junge den ersten Weltkrieg mit. Großer Hunger. Steckrüben standen auf dem Speiseplan. Er hatte keine Schuhe, nur sonntags für die Kirche. Für beide war ein gesellschaftlicher Aufstieg durch höhere Bildung nicht vorgesehen. Höhere Bildung kostete Geld. Dies brauchten meine Großeltern, um die Familie zu versorgen. Beide sollten jeweils in ihrer gesellschaftlichen Schicht bleiben. Meine Mutter sollte laut Nazi-Ideologie „Mutter“ werden. Mein Vater Nationalsozialist und Soldat.
Doch mein Vater hat sich anders entschieden. Er war Antifaschist und entschied sich zum Widerstand. Er wollte nicht hassen, nicht töten, sich über andere stellen. Er war gegen Krieg und Armut.
Nicht dazugehören, auch nach dem Krieg
Wenn ich mit meinem Vater durch die Straßen ging, fiel er auf. Er hatte kein „Schild“ um, war aber sichtbar tätowiert. Für mich nicht mehr sichtbar. Für die Umwelt schon. Tätowierungen standen für Seeleute, einer gesellschaftlich eher nieder angesiedelten Arbeitermenschengruppe. Abwertende Blicke, manchmal abschätzige Kommentare habe ich erlebt. Heute sind sie normal. Fast jede(r) hat Tätowierungen.
Dann kam die Zeit der Wiedergutmachungsklage zwecks Rente. Ich verstand nicht, warum mein Vater überhaupt klagen musste?
Stark, trotz KZ-Haft
Mein Vater war als Schutzhäftling von 1939-45 in Fuhlsbüttel, Sachsenhausen, Neuengamme, Dachau, Mauthausen → Gusen 1 und 2 interniert. Für mich war vollkommen klar, dass aufgrund dieser langen und schweren KZ-Haft seine Gesundheit einen derart großen Schaden erlitt, dass er nicht mehr arbeiten konnte.
Er bekam eine Mindestrente, musste sich die Wiedergutmachungsrente hart und lange erstreiten. Dies alles machte er ohne Anwalt. Ich sehe ihn noch heute da sitzen wie er Eingebungen und Widersprüche schrieb. Wieder dauerte es lange bis er überhaupt Antwort erhielt. Immer wieder holte ihn das KZ ein. Gesundheitlich ging es ihm immer schlechter.
Rückblende: Ich war klein ca. drei Jahre alt. Mein Vater hatte Alkohol getrunken. Er stand auf dem Balkon. Er rief: „Ihr habt mich ins KZ geschickt. Seht jetzt stehe ich hier. Ich lebe.“ Meine Mutter sagte: „Geh, hol doch mal bitte den Papa rein.“ Ich ging hinaus, fasste ihn an die Hand. Mein Vater sah mich an. Ich sagte: „Komm rein Papa. Hör auf zu rufen.“ Er lächelte, ging mit mir hinein. Vieles ist in mir. Das kann ich nur anderen, ausgewählten „Kindern“ erzählen und meiner inzwischen erwachsenen Tochter. Warum ist das so?
Mir ist sehr wichtig meinen Vater nicht als irgendwie „klein“ oder „schwach“ darzustellen. Das war er nie. Obwohl er selbst wusste, dass die KZs ihn verändert hatten. Ich möchte kein Mitleid, allenfalls Mitgefühl, Gespräche, Mitwirkung auf „ Augenhöhe“.
Immer präsent
Während der Wiedergutmachungsklage ging unser Leben, also auch mein Leben, weiter, wenngleich dieser „Kampf“ das Familienleben belastete. Ich erinnere mich z.B. daran, wie ich nach Hause kam. Mein Vater stand im Flur, einen Brief in der Hand. Unsere Blicke trafen sich. Sofort ahnte ich worum es ging. „Papa, Post vom Wiedergutmachungsamt?“ Er nickte zustimmend, keuchte (kaputte Lunge aus den Stollen in Gusen) und ging niedergeschlagen ins Wohnzimmer. Ich las. Wieder ein abschlägiger Bescheid. Ich konnte es nicht glauben. Jetzt hatte ich den Impuls auf den Balkon zu gehen, um zu rufen: „Hört auf ihm weh zu tun! Die sprechen mit einem Widerstandskämpfer! Ist denen das klar?!“
Das tat ich nicht. Stattdessen setze ich mich zu ihm. „Papa, übergebe das doch endlich einem Anwalt. Das musst Du Dir nicht antun. Du bist im Recht.“ „ Deern, wem soll ich das übergeben? Die sind doch alle durch die Nazi-Schule gelaufen.“ Ich streichelte ihm über den Rücken. Wenig später sah ich ihn schreibend sitzen.
Mein Vater hat oft von seiner KZ-Haft gesprochen. Manchmal erzählte er mir davon, weil ich gefragt habe. Manchmal, weil es äußere Anlässe gab. So z.B. Presseberichte, Vorladung als Zeuge eines NS-Nachkriegsverfahrens in München, Einladung zur Befreiungsfeier in Neuengamme u.s.w. Manchmal aber auch, weil ein Reiz, ein Geruch, ein Geräusch, ein Wort scheinbar plötzlich innere Bilder aus der KZ-Haft hervorriefen. Dann ging es ihm sehr schlecht.
Er hat mir einiges von seinen Bildern berichtet. Ich habe ihm einfach zugehört, war einfach da bis es ihm besser ging.
Ein wichtiges Erbe
Ich erinnere mich an vieles als wäre es gestern geschehen. So bekam ich mit 15 Jahren seinen „Entlassungsschein“ von den Amerikanern geschenkt. Diesen hatte er bis dahin immer bei sich getragen. Das war ihm sehr wichtig. Jetzt sollte ich ihn haben. Wir sprachen darüber. Er erklärte mir, dass er ihn nun nicht mehr bräuchte. Ich versprach gut darauf auf zu passen. Er lächelte und sagte: „Das weiß ich mein Kind, darum bekommst du ihn auch.“
Dann endlich war es vorbei. Nach fast 12 Jahren hat das Wiedergutmachungsamt auf Anraten des Gerichts einen Vergleich vorgeschlagen. Meinem Vater wurde ein Anwalt zur Seite gestellt. Mein Vater stimmte einem Vergleich nur zu, weil es ihm gesundheitlich so schlecht ging, dass er weitere Jahre durch die Instanzen nicht mehr erleben würde.
Und so war es dann auch. Knapp drei Jahre später verstarb er. Wenige Tage vorher hatten wir ein letztes stundenlanges, intensives, klärendes, nahes Gespräch. In diesem Gespräch sagte mein Vater: „Wenn wir Alten lange tot sind, dürft ihr Jungen die Nazizeit niemals vergessen! Hörst Du?! Gerade Du, als junge Deutsche. Nie wieder Krieg von deutschem Boden! Tue alles, was Du tun kannst. Spreche mit den Menschen. Seid für Eure Mutter da. Kümmert Euch um sie! Sie hatte ein schweres Leben. Sie ist Eure Mutter!“
Wir hielten uns an der Hand, während ich ihm versprach, zu tun, was ich tun kann. Bis zu ihrem Tod waren wir für unsere Mutter da. Und ich spreche mit den Menschen. Ich denke immer wieder an meinen Vater, der ein stolzer Seemann und Widerstandskämpfer war.