Mit partizipativer Kunst an das Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg erinnern
Auf die Geschichte des Arbeitserziehungslagers (AEL) Wilhelmsburg bin ich eher zufällig gestoßen. Im Sommer 2015 plante ich eine Ausstellung mit chinesischen Künstler_innen im Rahmen des Skulpturenprojekts Artville. Bei der ersten Begehung des Dockville-Geländes in Hamburg-Wilhelmsurg stieß ich in einem alten Kellerraum auf Gegenstände (alte Feldbetten, Kleider und weiteres), die dort seit Kriegsende liegengelassen zu sein schienen. Im Zuge weiterer Recherchen erfuhr ich vom Schicksal der ehemals in Hamburg-St. Paulilebenden Chinesen, der sogenannten „Chinesenaktion“ im Mai 1944, den Deportationen der Gestapo und der Geschichte des AEL Wilhelmsburg.
Ein fast vergessener Ort
Die Geschichte dieses Ortes hat mich nicht losgelassen. Enttäuscht war ich darüber, dass an die Schicksale der Menschen, die dort gefangen gehalten wurden und starben, in meinen Augen nicht angemessen erinnert wird. So ist die Idee für das im November 2016 geplante Projekt entstanden. Der chinesische Künstler Liu Ding und ich wollen Orte der politischen und interkulturellen Reflektion schaffen. Mit künstlerischen Mitteln erinnern wir an die Verbrechen im AEL und die Vertreibung der chinesischen Menschen aus Hamburg und aus Deutschland allgemein.
Ohne die Kunst politisch zu vereinnahmen (zu wollen) rekonstruieren wir modelhaft einen Kulturaustausch, der durch die Vertreibung der chinesischen Einwanderer unterbrochen wurde und reflektieren die Möglichkeit der Begegnung, die von den Nationalsozialisten gewaltsam verhindert wurde und auch später nicht mehr stattfand. Wir stellen uns vor diesem Hintergrund gegenseitig die Frage, welche Bedeutung die Geschichte für uns jeweils heute hat.
Erinnern heißt Verantwortung übernehmen
Es gibt in der Kunst von jeher Bestrebungen, Geschichte zu reflektieren und in einer emotionalen Sprache Betrachtern zugänglich zu machen. Vielleicht ergänzt sie dabei die Arbeit von Gedenkstätten, die mit Archvierungs- und Aufklärungsabeit Möglichkeitsräume des Nicht-Vergessens, Nicht-Verdrängens schaffen. Vielfach haben Kunstwerke in unserer Geschichte Tabus über das Aussprechen von Verbrechen gebrochen und wurden Anstoß politischer Reflektionen.
Begegnungen zwischen deutschen und chinesischen Künstler_innen
Seit sieben Jahren engagiere ich mich in der Recht-auf-Stadt-Bewegung im Gängeviertel und initiiere, organisiere und betreue dort kollektive künstlerische Projekte. Hiervon konnte ich für die Zusammenarbeit mit meinem chinesischen Kollegen profitieren. Mit der Kunsthistorikerin und Sinologin, Stephanie Fenner, konzipierte ich bereits 2013 im Rahmen der Projektreihe „Interchange&Commentary“ mit dem Projekt „Another China“ einen deutsch-chinesischen Künstler_innenaustausch.
„SocialBookmarking Hamburg“ wird gefördert von der Hamburger Kulturbehörde im Rahmen der China Time Hamburg 2016. Es ist die vierte Begegnung deutscher und chinesischer Künstler_innen, die sich jeweils auf ihre Weise für soziale, politisch-selbstbestimmte Projekte einsetzen.
Mit Kunst kommentieren, zum Nachdenken anregen, etwas bewirken
Das Erforschen sozialer Codes und geschichtlicher Ereignisse sowie das Hervorbringen von Möglichkeitsräumen, in denen politische Standpunkte formuliert werden, steht im Zentrum meines persönlichen und künstlerischen Interesses. Kunst an sich reibt sich an dem Thema: sie spiegelt, bewegt und istsoziale Realität. Als Malerin arbeite ich zwar weniger unmittelbar dokumentarisch, übertrage aber soziale und historische Bezüge in eine emotionale, letztlich körperlich hervorgebrachte und symbolisch inszenierte Sprache, und beziehe die historische Befragung in meine ästhetische Formfindungen mit ein. Im Sommer 2015 entstand beispielsweise umgeben von naturgrünen Laubbäumen eine neongrüne Stadtkarte, auf der die Orte der Deportation ins AEL Wilhelmsburg markiert waren. Die Wandmalerei in einem Ausstellung-Kubus des Artville wurde von Besucher_innen mit bereitliegenden Kohlestiften kommentiert.
Das Projekt „SocialBookmarking Hamburg“ nimmt als vorwiegend performativ geplantes Projekt eine besondere Stellung innerhalb meiner Arbeit ein, fügt sich aber in die Reihe der künstlerischen Projekte „Interchange&Commentary“, die ich seit Beginn meiner Arbeit im Gängeviertel in Kooperation mit anderen Künstler_innen erarbeite.
Ich möchte die Auseinandersetzung zudem zum Anlass nehmen, die Stadt Hamburg auf die zum einen sehr schlecht positionierte Gedenktafel auf dem Gelände des AEL mit dem teils sehr unglücklich formulierten Text hinzuweisen. Im Anschluss an das Projekt soll ein Gegenentwurf dem Amt vorgelegt werden.
Unterstützer_innen für den 26. November gesucht
Wir planen am 26. November auf dem Gelände des ehemaligen AEL Wilhelmsburg eine partizipative Performance. Das Konzept des chinesischen Künstlers Ding Liu sieht vor, das 324 Pflanzen hier von derselben Anzahl freiwilliger Besucher_innen eingepflanzt werden. Wir sind auf der Suche nach Personen, die sich mit uns am 26. November um 14 Uhr auf dem Gelände des ehemaligen Gestapo-Lagers „Langer Morgen“ treffen und die Pflanzen dort setzen. Wir freuen uns über Gedanken und Mitteilungen zu dem Projekt und bitten um eine Zusage per E-Mail an: dagmarrauwald@gmx.de.
Social Bookmarking Hamburg
Vernissage: Galerie Speckstraße am 25. November 2016 ab 19:00 (Speckstrasse 85, 20355 Hamburg) – Geöffnet am 26. uUnd 27. November 2016 14:00 bis 18:00
Performance am 26. November 2016 um 14:00 auf dem Gelände des ehemaligen Gestapo-Lagers Langer Morgen in Hamburg Wilhelmsburg
Bushaltestelle: Rethebrücke (Süd), 21107 Hamburg (13:52 mit Buslinie 153 ab S-Harburg)
Kostenloser Bustransfer ab Schmuckstraße/Talstraße Abfahrt: 13:30
Begrenzte Plätze. Bitte Anmelden: dagmarrauwald@gmx.de
26. November 2016 um 19:00 Essensritual, Fabrique im Gängeviertel, Valentinskamp 34, Eingang über Speckstraße, 20355 Hamburg
Panel Discussion am 27. November 2016 um 15:00 im Seminarraum der Fabrique im Gängeviertel. Moderation: Noga Stiassny and Flora Tong | PhD student and a member in the research group: “Recollections: Representations of the Shoah in Comparative Perspective” (Graduiertenkolleg Vergegenwärtigungen: Repräsentationen der Shoah in komparatistischer Perspektive), University of Hamburg
mit: Lars Amenda, hANNI Jokinnen, Martin Reiter