Manchmal gibt es keine einfachen Antworten
Bis zum 8. Januar 2017 zeigt die KZ-Gedenkstätte Vught die Ausstellung „Tanzen mit dem Feind“ über die jüdische Tanzlehrerin Roosje Glaser, die die Lager Vught, Westerbork und Auschwitz überlebte und in Schweden ihre neue Heimat fand.
Die Gedenkstätte steht in engem Kontakt mit Paul Glaser, dem Neffen von Roosje, der ohne Kenntnisse über seine Tante aufwuchs und erst nach und nach die Geschichte hinter den „verborgenen Zeichen“ aufdecken konnte. In „Die Tänzerin von Auschwitz: Die Geschichte einer unbeugsamen Frau“ verbindet er den Erzählstrang über die Erforschung der eigenen Familiengeschichte, die sich über mehrere Jahrzehnte hinzieht, und die Entscheidung zur Veröffentlichung dieser mit der Lebensgeschichte seiner Tante Roosje.
Das Familiengeheimnis
Paul Glaser wurde 1947 geboren, als ältestes von fünf Kindern von John Glaser, dem jüngeren Bruder von Roosje, und dessen Frau Elisabeth. Er wird katholisch erzogen. Wie die Eltern die Kriegszeit erlebt haben, ist kein Gesprächsthema in der Familie, auch nicht, wann und wie die Großeltern väterlicherseits während des Krieges gestorben sind. Die Familie väterlicherseits ist klein: da ist nur die in Schweden lebende Tante Roosje, zu der jedoch kein Kontakt besteht; mütterlicherseits ist die Familie dafür umso größer. Paul hat keinerlei Veranlassung zu vermuten, dass es in seiner Familie etwas Unausgesprochenes gibt:
„Obwohl ich von Natur aus neugierig bin, kam ich einfach nicht auf die Idee, meine Identität – und damit die Vergangenheit meiner Familie – näher zu erforschen. Ich hatte nicht das Gefühl, dass mir etwas fehlte.“ (S. 41)
In knappen Kapiteln schildert Paul Glaser, wie sich ihm das Familiengeheimnis quasi aufdrängt, in „verborgenen Zeichen“ andeutetet und erste Fragen nach der Herkunft und Geschichte seiner Familie entstehen lässt. Jedes Kapitel stellt einen weiteren Erkenntnisschritt bezüglich der Familiengeschichte dar. Meist ist es gar nicht Paul, der aktiv forscht, vielmehr kommen die Informationen auf ihn zu – in Form beiläufiger Bemerkungen, des zufälligen Fundes von Briefen von Tante Roosje aus der Kriegszeit, der Begegnungen mit bisher unbekannten Verwandten väterlicherseits. Langsam eröffnet sich für Paul Glaser die Erkenntnis, dass die Familie seines Vaters jüdisch und ein Großteil der Verwandten seines Vaters in der Shoah ums Leben gekommen ist. Was diese Tatsache für ihn selbst bedeutet – denn es waren ja auch seine Verwandten -, damit setzt sich Paul Glaser erst nach anfänglichem Zögern auseinander.
„Fast fünfundachtzig Prozent der niederländischen Juden hatten den Krieg nicht überlebt. […] allein schon diese Zahl – und die Entdeckung, dass es da eine Verbindung zu mir gab – überwältigten mich. Ich würde verrückt werden, wenn ich das alles noch näher an mich heranließe.“ (S. 59)
Pauls Vater wollte nie erzählen, selbst nachdem Paul ihn auf seine jüdische Herkunft hin angesprochen hatte. „Es war deutlich, dass er nicht reden, dass er die Vergangenheit ruhen lassen wollte.“ (S. 100) Aber er gab seinem Sohn einen Rat mit auf den Weg: Er solle nicht über seine jüdischen Wurzeln sprechen. „Behalte es für dich. Sonst wird man es früher oder später gegen dich verwenden.“ (S. 100) Diese Passage ist eine der wenigen im Buch, an der sich ahnen lässt, wie traumatisiert John Glaser ist: Seine Eltern wurden nach Sobibor deportiert und dort ermordet – wie auch viele weitere Verwandte. John selbst überlebte die Verfolgung im Versteck. Seiner Schwester Roosje, die Auschwitz überlebte, machte er zeitlebens den Vorwurf, dass sie sich mit gefälschten Papieren in der Öffentlichkeit bewegt und damit auch ihre Mutter gefährdet hatte, somit Verantwortung trug für deren Verhaftung und Deportation. Aus diesem Grund hatten die Geschwister nach dem Krieg den Kontakt zueinander abgebrochen. Paul macht seinem Vater keinen Vorwurf wegen seines Schweigens, er respektiert es – so wie der Vater es respektiert, dass sein Sohn das Familiengeheimnis nach und nach freilegt.
Der Holocaust als Teil der eigenen Familiengeschichte
Der Lebensgeschichte der unbekannten Tante Roosje kommt Paul nach und nach auf die Spur. Briefe, die Roosje während ihrer Gefangenschaft aus den Lagern Westerbork und Vught geschrieben hat, machen ihm bewusst, dass Roosje die Verfolgung in den Niederlanden erlebt hat – bisher war er davon ausgegangen, dass sie bereits während der Kriegszeit in Schweden gelebt hatte. Als er mehr über Roosjes Deportation und die anderer Verwandter nach Auschwitz erfährt wird Paul Glaser die ganze Dimension seiner Entdeckungen deutlich.
„Was der Holocaust bedeutete, wusste ich aus Geschichtsbüchern und Dokumentarfilmen sowie von Gedenktagen, doch bisher war das alles immer mehr oder weniger abstrakt geblieben. Erst jetzt, als ich hörte, was Verwandte von mir an Tragik erlebt hatten, fiel die Distanz weg. Ich war tief betroffen und schämte mich, weil ich bisher so gleichgültig gewesen war.“ (S. 200)
Zwei Jahre vor ihrem Tod besucht Paul Glaser 1998 Roosje in Stockholm. Sie zeigt ihm ihre Fotoalben aus der Vorkriegszeit, zum ersten Mal sieht Paul Fotos seiner Großeltern und von seinem Vater als jungem Mann. Und sie erzählt offen von dem, was sie erlebt hat. Die Lebensgeschichte von Roosje nimmt in Paul Glasers Text mehr Raum ein als die Beschreibung seines Weges auf den Spuren des Familiengeheimnisses.
Die Erinnerung wahren
Mit der ausführlichen Darstellung ihres Lebens würdigt er das Schicksal seiner Tante und bewahrt es vor dem Vergessen. Roosjes Tagebücher, Fotoalben und Briefe, die Paul Glaser nach dem Tod seiner Tante erbte, ermöglichen es ihm, Roosjes Geschichte in der Ich-Form zu erzählen. Geschickt kann er so vermeiden, Roosjes Handeln zu kommentieren oder zu werten. Denn Tante Roosje berichtete offen, dass sie in den nationalsozialistischen Lagern Liebesbeziehungen zu (niederländischen und deutschen) SS-Angehörigen hatte und dies zu ihrem Vorteil und somit zum Überleben nutzte. In Auschwitz gab sie SS-Männern Tanzunterricht. Von den Niederländern und deren aktiver Rolle bei der Verfolgung der niederländischen Juden (ihr eigener nicht-jüdischer Ehemann hatte sie denunziert) dagegen war sie derart enttäuscht, dass sie sich nach dem Krieg in Schweden niederließ.
Paul Glasers Text ist sehr diskret in Hinsicht auf Emotionen und Diskussionen, die seine Entdeckungen innerhalb seiner Familie (vermutlich) ausgelöst haben. Er stellt seine Spurensuche in den Mittelpunkt und wie sich über die Jahre hinweg ein Puzzleteil zum nächsten fügt, mehr eine detektivische Suche und weniger ein emotionaler Prozess. Glasers Bericht ist trotzdem stimmig, seine Zurückhaltung in persönlichen Empfindungen ist nachvollziehbar. Schließlich ist das Buch an sich und die Würdigung, die Tante Roosjes Leben in ihm erfährt, ein lesbarer Beweis für die Beschäftigung Paul Glasers mit sich und seiner Familiengeschichte.
2015 erschien die deutsche Übersetzung, wobei der deutsche Titel „Die Tänzerin von Auschwitz“ den Schwerpunkt auf Roosjes Schicksal legt, während der niederländische Titel das Familiengeheimnis in den Vordergrund stellt. Interessant wäre es, der Frage nachzugehen, ob und wie sich die Rezeption des Buches in den Niederlanden und Deutschland unterscheidet. Die Frage nach der Verantwortung der Niederländer bei der Verfolgung der niederländischen Juden (für die Paul Glaser sehr deutliche Worte findet) ist in den Niederlanden von anderer Brisanz als in Deutschland. Die Erforschung der eigenen Familiengeschichte allerdings ist auch in Deutschland „en vogue“ (vermutlich mehr als in den Niederlanden), merkwürdig, dass sich dies im deutschen Titel und Untertitel nicht widerspiegelt.
Weitere Informationen zu Roosje Glaser und Paul Glasers Arbeit gibt es auf der Website „Tante Roosje“ in sieben Sprachen!
Die Ausstellung „Tanzen mit dem Feind“ des Nationaal Monument Kamp Vught kann von interessierten Institutionen ausgeliehen werden.