
Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa ereignete sich in der Lübecker Bucht eine Katastrophe. Am 03. Mai 1945 bombardierten britische Flugzeuge das Frachtschiff „Thielbek“ und das Passagierschiff „Cap Arcona“, die in der Lübecker Bucht vor Neustadt vor Anker lagen, in der Annahme, dass sich auf den Schiffen deutsche Truppen befanden. Allerdings befanden sich an Bord größtenteils Häftlinge aus dem KZ Neuengamme – fast 7.000 von ihnen starben an diesem Tag.
Etwa 10.000 Häftlinge waren Ende April im Zuge einer Räumungsaktion aus dem KZ Neuengamme nach Lübeck verlegt worden. Die SS zwang sie dann schließlich im Lübecker Hafen auf vier verschiedene Schiffe, unter anderem die „Thielbek“ und die „Cap Arcona“. Die Bedingungen an Bord der Schiffe waren katastrophal, sodass viele Häftlinge bereits in den Tagen vor dem Angriff starben.
Als am 03. Mai 1945 die britische Luftwaffe im Rahmen eines Angriffs zur „Zerstörung der feindlichen Schiffsansammlung in der Lübecker Bucht die „Thielbek“ und die „Cap Arcona“ bombardierten, verbrannten oder ertranken fast 7.000 Häftlinge in der Lübecker Bucht. Einige, die sich aus dem Wasser retten konnten, wurden am Strand erschossen – nur wenige Stunden vor ihrer möglichen Befreiung.
Welche Bedeutung hat diese Katastrophe für uns heute, in Neustadt und weltweit? Wie wollen wir in Zukunft Gedenken? Diesen Fragen nimmt sich die Amicale Internationale KZ Neuengamme (AIN) an. Als Dachverband der nationalen Verbände ehemaliger Häftlinge des KZ Neuengammes und ihrer Angehörigen finden sich in den Reihen ihrer Mitglieder auch Nachfahren von Opfern der Schiffskatastrophe in der Lübecker Bucht. Viele von ihnen werden am 2. und 3. Mai dieses Jahres nach Neustadt in Holstein fahren, um an den Gedenkveranstaltungen zum 77. Jahrestag der Bombardierung der Häftlingsschiffe in der Neustädter Bucht teilzunehmen.
Mit uns teilen einige Mitglieder der AIN ihre Gedanken zur Bedeutung des Gedenkens in Neustadt:
Im Gedenken an dieses schreckliche Ereignis und die anderen abscheulichen Verbrechen des Naziregimes bleiben wir uns der Bedeutung des Rechtsstaates bewusst und sind uns in den letzten Monaten einmal mehr bewusst geworden, wie wenig selbstverständlich er ist. Die Überlebenden dieser Katastrophe und des Konzentrationslagers Neuengamme haben dies am eigenen Leib erfahren.
Es ist kein Zufall, dass die Gründer der Amicale Internationale das erste Ziel der Organisation wie folgt formulierten: „Sie wollten den Frieden und die europäische Sicherheit bewahren, sich für die internationale Verständigung, die Stärkung der internationalen Freundschaft und den Kampf gegen Neonazismus, Neofaschismus und revanchistische Aktivitäten einsetzen.“
Deshalb muss die Geschichte des Unglücks in der Lübecker Bucht weitererzählt werden, gerade jetzt.
Martine Letterie, Präsidentin der AIN, Enkelin von Martinus Letterie, gestorben im KZ Neuengamme
Gedenken und Erinnern ist für mich nicht nur eine „Dankesschuld“ gegenüber unseren Eltern und Großeltern, die in dieser Zeit auf der richtigen Seite gestanden und für Frieden und Freiheit ihr Leben riskiert haben. Gedenken und Erinnern dürfen nicht aufhören: Ohne Erinnern keine „Geschichte“ und keinen Dialog zwischen den Generationen.
Bruno Neurath-Wilson, Sohn von Willi Neurath, Überlebender des Untergangs der Cap Arcona
Noch vor kurzem hätte man hoffen können, dass sich solche Kriegstragödien nicht wiederholen würden, zumindest nicht auf europäischem Boden. Aber leider ist es wieder passiert. Man muss zwar vorsichtig sein, wenn man verschiedene Kriegstragödien vergleicht, aber die schrecklichen Folgen der Bombardierungen in Mariupol und anderen Städten in der Ukraine haben mich wieder an all das denken lassen, was mein Vater durchgemacht hat.
Wir dürfen nie vergessen, welches menschliche Leid ein Krieg mit sich bringen kann und wie wichtig es ist, Widerstand zu leisten, auch wenn dies mit hohen Kosten verbunden ist. Deshalb ist es so wichtig, die Erinnerung an diese Tragödien wach zu halten.
Bernard Jeune, Sohn von Eugene Jeune, Opfer des Untergangs der Cap Arcona
In der zweiten Aprilhälfte 1945 wurde mein Großvater, Kazimierz Wajsen, zusammen mit anderen Gefangenen des KZ Neuengamme nach Lübeck evakuiert. Die Menschen wurden auf das Schiff Athen verladen, nach einigen Tagen wurden sie auf die Cap Arcona und schließlich zurück auf die Athen gebracht, wo mein Großvater bis zum 3. Mai 1945 blieb. Dank der Tatsache, dass der Kapitän die weiße Flagge hisste, wurde das Schiff nicht bombardiert und konnte in Neustadt wieder unversehrt anlegen. Mein Großvater gehörte zu denjenigen, die an diesem Tag ihr Leben gewannen – alles Schlechte der Gefangenschaft endete. Ein paar Tagen nach der Befreiung geschah etwas Wunderbares – er lernte im Deportationslager meine Großmutter kennen, mit der er bis ans Ende seiner Tage zusammen war. Neustadt ist ein Ort, an dem so viele Menschen starben, es war das Ende von allem. Für meinen Großvater war es das Ende von allem, was schlecht war, und der Anfang von allem, was gut war. Trotzdem ist es für mich ein tragischer Ort, so viele Menschen haben hier gelitten, so viele sind gestorben. Sie haben es nicht geschafft, wie mein Großvater weiterzuleben…
Magda Wajsen, Enkelin von Kazimierz Wajsen, ehemaliger Häftling des KZ Neuengamme
Erst 2012, nach dem Tod meines Vaters, erfuhr ich, dass mein Onkel, der als Widerstandskämpfer von der Gestapo verhaftet und nach Neuengamme deportiert worden war, am Ende des Krieges wahrscheinlich auf einem der bombardierten Schiffe starb.
Diese Entdeckung prägte mich. Was geschah mit meinem Onkel? Wie wurde an ihn gedacht? Wer wird an ihn weiterdenken? Es wurde wichtig für mich über sein Schicksal nachzuforschen und alles dafür zu tun, damit er im Gedächtnis bleibt.
Das Gedenken in Neustadt ermöglicht für alle Opfer dieser Tragödie Ehrung und Erinnerung, Anerkennung der gemeinsamen Leiden und dadurch die Rückgabe ihrer entnommenen Würde. Dies ist unerlässlich für die Angehörigen.
Das Gedenken trägt gleichzeitig dazu bei, über die Hintergründe der Ereignisse dieser dunklen Geschichte und über den Wert unserer Freiheit nachzudenken.
Françoise Plaza-Carlström, Nichte von Jacques Scherer, Opfer des Untergangs der Cap Arcona
Für mich ist das Gedenken sehr wichtig. Erstens ist es wichtig, weil es ein sehr trauriger Tag für mehr als 7.000 ehemalige KZ-Häftlinge war, die so kurz vor Kriegsende starben und unglücklicherweise (die historischen Gründe sind immer noch nicht zu 100 % geklärt) durch eine Aktion der alliierten Streitkräfte getötet wurden, die dort waren, um Deutschland und alle Gefangenen zu befreien. Zweitens möchte ich immer am 3. Mai dort sein, weil es für mich persönlich ein ganz besonderer Ort ist, denn am 3. Mai 1945 war mein Großvater unter den Überlebenden dieses schrecklichen Tages. Wenn ich also dort stehe, habe ich ein sehr gemischtes Gefühl. Er wurde an diesem Ort befreit, was eine sehr gute Nachricht war und mir ein positives Gefühl gibt, wenn ich dort stehe, aber gleichzeitig starben mehr als 7.000 seiner Kameraden an diesem Tag und das gibt mir ein sehr schlechtes Gefühl.
Kristof van Mierop, Generalsekretär der AIN, Enkel von Roger Vyvey, Überlebender der Bombardierung in der Lübecker Bucht