In ihrem Podcastprojekt „Die Anachronistin“ widmet sich Nora Hespers seit 2014 dem Leben ihres Großvaters Theo Hespers, der als Widerstandskämpfer gegen die Nazis aktiv war, und seiner Familie – „betrachtet mit den Augen der Gegenwart“, wie Hespers auf ihrer Website schreibt. 2021 erschien ihr Buch „Mein Opa, sein Widerstand gegen die Nazis und ich“ im Suhrkamp Verlag. Nachfolgend findet sich der Prolog zu diesem Buch.
Ich habe noch nie so geweint. So still. So tief erschüttert. So fassungslos. So überwältigt von Schmerz, Trauer und Bewunderung gleichzeitig. Auf dem Bildschirm meines Laptops stehen Worte, die aus einer Vergangenheit zu mir sprechen, die mir bis dahin zu den Ohren raushing. Weil ich nichts mit dieser Welt anzufangen wusste, von der mein Vater immer erzählt hat. Mein Vater, der sogar ein Jahr älter ist als meine Oma mütterlicherseits. Er, geboren am 21. Februar 1931, wurde nie müde zu erzählen, wie sein Vater vor den Nazis fliehen musste. Wie er deswegen als kleiner Junge in den Niederlanden aufgewachsen ist. Wie seine Eltern ihn später in einem Kinderheim in Belgien versteckt haben. Wie sie dort Rattenköttel ins Mehl gemahlen haben, weil sie zu faul waren, die aus dem Hafer rauszusortieren. Wie die Nazis seinen Vater am Fleischerhaken erhängt haben. Wie er in Mönchengladbach von Bomben verschüttet wird und neben ihm seine Tante stirbt, während er mit geplatztem Trommelfell überlebt. Ich kenne all diese Geschichten. Mein Vater ist ein großartiger Geschichtenerzähler. Er performt sie mit donnernder Stimme und großen Gesten. Wie ein Theaterschauspieler. Ich habe als Kind fasziniert zugehört. Aber wirklich verstanden habe ich das nicht.
Bis zu diesem Tag. Dem Tag, an dem ich eigentlich nach einem Thema für meine Diplomarbeit suche. Es ist 2006, Frühjahr und neben meiner Studentenbude fährt der Aufzug in unregelmäßigen Abständen auf und ab. Ansonsten ist es still. Zumindest erinnere ich mich nicht an irgendwelche Geräusche.
Aus Neugier und Langeweile tippe ich meinen Familiennamen in eine Suchmaschine und lande bei einem Wikipedia-Artikel über Theo Hespers. Bis zu diesem Tag war mir nicht mal klar, dass mein Opa da überhaupt einen Eintrag hat. Verlinkt ist ein Referat aus dem Quickborn von Meinulf Barbers. Keine Ahnung, was der Quickborn oder wer Meinulf Barbers ist, aber das Referat klingt spannend, also klicke ich darauf. Ich bin seltsam gefangen von dem, was ich da lese, und tauche tief in die Geschichte ab. Plötzlich bin ich dabei, als die Gestapo das Haus meines Großvaters mit Flakscheinwerfern anstrahlt und alles auf den Kopf stellt, um angebliche Flugblätter zu finden. Es ist ein Tag im Frühjahr 1933, kurz danach flieht mein Großvater von Mönchengladbach nach Venlo. Mutmaßlich zu Fuß. Ich lese von seiner politischen Arbeit im Exil, seinen Artikeln für die Widerstandszeitschrift. Von seiner Verhaftung. Und dann sind da diese Briefe aus der Gestapo-Haft an seine Familie. Mir ist längst klar, dass mein Großvater weiß, dass er nicht lebend aus der Sache rauskommt. Er weiß, dass er sterben wird. Ich weiß, dass er sterben wird. Und dann lese ich diese Zeilen, die alle Schleusen öffnen und mich gleichzeitig stockstarr werden lassen.
Aber einmal wird ja alles vorbei sein und auch für mich Friede sein. Ihr werdet, hoffe ich, noch einmal die neue schöne Zeit erleben, nach der ich mich immer sehnte, in einem glücklichen Volk, friedlich, gesättigt und froh leben. Ich wünsche es allen Menschen!
Die Tränen tropfen auf meinen Schreibtisch. Ich starre auf den Bildschirm und bin nicht fähig, mich zu bewegen. Minutenlang hält dieser Zustand an. Und auch Tage später fühle ich mich noch, als wäre ich nicht richtig wach geworden aus einem schrecklichen Albtraum. Es wird sechs Jahre dauern, bis ich mich erneut mit dieser Geschichte beschäftige.
Nora Hespers wächst mit vielen Geschichten über ihren Opa auf: den Widerstandskämpfer Theo Hespers, der von den Nazis gejagt und hingerichtet wurde. Ihr Vater erzählt sie bei jeder Gelegenheit. Immer und immer wieder. So oft, dass die jugendliche Nora irgendwann auf Durchzug stellt. Dann verlässt der Vater die Familie, und mit ihm verschwindet auch der Großvater aus ihrem Leben. Jahre später, Nora Hespers arbeitet inzwischen als freie Journalistin für Hörfunk und TV, wird sie wieder mit ihrem Großvater konfrontiert. Und das zu einer Zeit, in der die freiheitlich-demokratischen Werte, für die er gekämpft hat und für die er gestorben ist, bedroht werden wie lange nicht mehr. Für Nora Hespers ist es der Startpunkt, sich mit der Geschichte ihres Opas auseinanderzusetzen. Doch was kann man aus dem Widerstand damals für das Heute lernen?
Der obenstehende Text ist der Prolog zu Nora Hespers Buch „Mein Opa, sein Widerstand gegen die Nazis und ich„, welches 2021 im Suhrkamp Verlag erschien. Das Buch ist eine Auseinandersetzung mit dem Leben ihres Großvaters Theo Hespers. Außerdem ist es die berührende Geschichte einer Wiederbegegnung mit dem Vater – fünfzehn Jahre nachdem er seine Familie über Nacht verließ und sie den Kontakt zu ihm abbrach. Dabei richtet Hespers einen leidenschaftlichen Appell an uns alle: Unsere demokratischen Freiheitsrechte, für die Menschen wie Theo Hespers sich aufgeopfert haben, müssen heute mehr denn je gegen Angriffe von rechts verteidigt werden.