Die Schriftstellerin Martine Letterie spricht seit vielen Jahren mit Kindern und Jugendlichen in den Niederlanden über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Immer auf Augenhöhe, immer der Wahrheit verpflichtet, aber auch immer altersgerecht. Mit Grundschulkindern spricht sie nicht über die Vernichtungslager, sondern darüber, wie Kinder Krieg, Ausgrenzung und Konzentrationslager erlebt haben. Am 24. Oktober 2019 besuchte sie zum ersten Mal zwei vierte Klassen in Hamburg, um ihnen ihr Buch „Kinder mit Stern“ vorzustellen, das 2019 in deutscher Übersetzung erschienen ist.
Eine Schriftstellerin zu Besuch
„Bist Du berühmt?“ möchte einer der Viertklässler von Martine Letterie, der niederländischen Kinder- und Jugendbuchautorin, wissen. „Wieviel verdient man als Schriftstellerin?“ fragt ein anderes Kind. „Magst Du die niederländische Nationalmannschaft?“ erkundigt sich ein dritter. Alle Augen der Kinder, die im Stuhlkreis in der Aula der Grundschule An der Isebek in Hamburg sitzen, sind auf die Autorin gerichtet.
Es sind dieselben Fragen, die auch niederländische Kinder stellen. Für die meisten ist Martine Letterie die erste Schriftstellerin, der sie persönlich begegnen. Sie war selbst 15 Jahre Lehrerin bevor sie sich entschloss, die Schriftstellerei zu ihrem Beruf zu machen. Mehr als 120 Bücher hat sie seitdem veröffentlicht, darunter auch einige für Erwachsene. Fast alle basieren auf historischen Ereignissen.
So beginnt sie ihre Präsentation auch mit der Recherche in Archiven, dem Lesen von Interviews und dem Kreieren von Charakteren, denen die Geschichten von Kindern, die während des Zweiten Weltkriegs gelebt haben, zu Grunde liegen. In „Kinder mit Stern“, das im März 2019 im Carlsen Verlag auf Deutsch erschienen ist, erzählt sie die Geschichte von sechs Kindern während der Besatzung der Niederlande durch Nazi-Deutschland. Sie zeigt Fotos von Kindern, die das KZ Westerbork überlebt haben und wie ihre Erfahrungen in die Geschichte eingeflossen sind. Das letzte Foto zeigt Leo. Leo hat nicht überlebt.
Wer war Leo?
„Ich habe dieses Buch für Kinder geschrieben, die so alt sind wie Ihr. Es ist ein schweres Thema. Fünf Kinder in dem Buch haben überlebt. Ich wollte neben allem Schlimmen, auch über Hoffnung schreiben. Aber ich muss Euch auch die Wahrheit sagen. Leo ist gestorben. Er ist eins von 18.000 Kindern, die aus dem KZ Westerbork abgeholt wurden und von denen nur wenigen zurückkehrten. Aber ich werde nicht mit Euch darüber sprechen, wie Leo gestorben ist. Das kommt, wenn Ihr älter seid.“
Anstatt über Leos Tod zu sprechen, erklärt sie den Kindern, wie sie herausfinden konnte, wer Leo war, was er gern mochte und wie er im KZ Westerbork gelebt hat. Leos Familie verbrachte zwei Jahre im KZ Westerbork. Das war ungewöhnlich lang. Sein Vater war Apotheker, auch noch in Westerbork. Die SS brauchte ihn um den Schein vom „guten“ Lager zu wahren. Wie die anderen Kinder ging Leo zur Schule. An den Nachmittagen malte und bastelte er. Martine Letterie zeigt den Schüler_innen Zeichnungen – Blumen, Fahrräder und Strichmännchen -, die Leo im Lager gemalt hat. Sein Vater hatte sie aus dem Lager herausschmuggeln können. Freunde und Kollegen hoben sie auf. Nur Leos Vater kehrte nach dem Krieg in die Niederlande zurück.
Ein Denkmal für Leo
Am Ende ihrer Präsentation holt Martine Letterie ein ausgedrucktes Portraitfoto von Leo aus ihrer Tasche und pinnt es an eine Moderationswand. „Wenn jemand gestorben ist, dann macht man für diese Person ein Denkmal.“ Die Kinder nicken. „Auch wir können ein kleines Denkmal für Leo machen. Wenn Ihr mögt, könnt Ihr ein Bild für Leo malen oder ihm einen Brief schreiben.“
In den wenigen Minuten, die noch bis zum Pausengong zur Verfügung stehen, entstehen kleine Kunstwerke und kurze Nachrichten für Leo. Eins ist klar. Leos Schicksal hat sie alle berührt. Ein Kind in ihrem Alter musste sterben, weil er anders war.