
© Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Am 3. Mai 1945 überlebte mein Vater Willi Neurath den Untergang der Cap Arcona vor Neustadt/Holstein. Am 6. Juni 1948 wurde er – zusammen mit Rudi Goguel, Hans Schwarz und Jupp Händler, um nur einige zu nennen – ins Präsidium der „Arbeitsgemeinschaft Neuengamme“ (AGN) gewählt. Das habe ich erfahren bei der Lektüre des Buches „… das war ja kein Spaziergang im Sommer. Die Geschichte eines Überlebendenverbands“, das Susanne Wald, Schatzmeisterin der Arbeitgemeinschaft, mir als neuem Mitglied der AGN im Februar 2019 geschickt hat.
Der Kreis schließt sich
Am 6. Juni 1948 war ich gerade mal sieben Wochen alt – und als ich das las, wurde aus meiner lang gehegten Absicht, am 3. Mai 2019 in Neustadt zu sein, ein unverrückbarer Entschluss.
Normalerweise bin ich nämlich am 1. Mai immer Teilnehmer der Maikundgebung des DGB an meinem Wohnort – erst ein Mal in den vergangenen Jahrzehnten war ich am 1. Mai nicht bei der DGB-Kundgebung. Am 1. Mai 2019 sollte es zum 2. Mal der Fall sein, dass ich nicht an der DGB-Kundgebung teilnehmen würde, weil ich an diesem Tag an dem Forum „Zukunft der Erinnerung” in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme teilnehmen wollte, um von dort aus zur Gedenkveranstaltung nach Neustadt zu fahren.
Erinnerungsstücke in guten Händen

© Privatbesitz Bruno Neurath-Wilson
Merkwürdig … je älter ich werde, desto wichtiger wird es für mich, die Einzelheiten aus dem Leben meiner Eltern zu erfahren. Als meine Mutter vor über 30 Jahren starb und ich ihre Wohnung auflösen musste, nahm ich einen großen Karton mit Unterlagen meines Vaters mit. Darunter waren ein dickes Bündel mit Briefen, die er ihr aus dem KZ-Buchenwald geschrieben hatte, seine Häftlingsmarke, ein Kassiber, das ihm ein Genosse irgendwann einmal ins Zuchthaus geschickt haben muss, und auch ein Erlebnisbericht meines Großvaters mütterlicherseits, der neun Jahre eingesperrt war. Immer wieder habe ich diese Dokumente in die Hand genommen und darin gelesen – waren sie doch die letzte, „physisch greifbare“ Erinnerung an meine Eltern.
Aber 2005 war es soweit, dass ich der Meinung war, dass diese Dokumente in ein „ordentliches“, öffentlich zugängliches Archiv gehören, am besten an einem Ort seiner Inhaftierung. Meine Wahl fiel auf Neuengamme, weil mein Vater hier zuletzt eingesperrt und von dort auf die Cap Arcona verschleppt worden war.
Nachforschungen
Seit drei Jahren wohne ich wieder in Köln – der Stadt, in der meine Eltern geheiratet haben und in der mein Vater auch verhaftet worden ist. Seitdem steigt mein Interesse an den Einzelheiten aus seiner Biographie – jetzt will ich mehr wissen als das, was ich aus dem Karton schon wusste.
Eine Nachfrage beim Archiv des Kölner ElDe-Hauses, dem städtischen NS-Dokumentationszentrum, ergab, dass es hier im Eintrag über Willi Neurath einen Verweis auf die Vernehmungsprotokolle der Gestapo im Landesarchiv Münster gibt.
Seit gut zwei Jahren also bewege ich mich intensiver als jemals zuvor auf den Spuren meines Vaters. Im Landesarchiv Münster habe ich mit großer Überraschung gelesen, dass auch einer seiner drei Brüder zwei Jahre im Zuchthaus war.
Mein Entschluss, in diesem Jahr nach Neustadt und zum Forum nach Neuengamme zu fahren, war also nur folgerichtig.
Ich muss aber unbedingt hinzufügen, dass die Korrespondenz mit Uta Kühl, Swenja Granzow-Rauwald und Thomas Käpernick – alle drei sind Mitglieder des Vorstands der Arbeitsgemeinschaft Neuengamme – diesen Entschluss immer wieder gestärkt haben.
Schülerprojekt über die Geschichte meiner Eltern
Als Thomas dann eines Tages vorschlug, die Biographie meines Vaters zum Gegenstand des Gemeinschaftsprojektes mit dem Küstengymnasium Neustadt zu machen, war ich ganz tief berührt.
Wir hatten großes Glück am 3. Mai: Es war Regen angesagt, aber strahlender Sonnenschein empfing uns schon bei der Anfahrt. Ich habe zum zweiten Mal überhaupt an einer Gedenkfeier in Neustadt teilgenommen und war überrascht über die für meinen Eindruck doch recht große Teilnehmerzahl. Täusche ich mich, aber dass ein Schulchor und eine Bläsergruppe teilgenommen haben, das gab es doch „früher“ nicht?
Wenn das Anzeichen dafür sind, dass das Erinnern an die Katastrophe vom 3. Mai 1945 in der lokalen Öffentlichkeit auf mehr Akzeptanz stößt als noch vor 20 oder 30 Jahren, dann können wir dankbar sein für das jahrzehntelange Engagement all derer, die dieses Ergebnis bewirkt haben!!!
Denn die Frage, wer das Gedenken und Erinnern denn in Zukunft in die Hände nimmt, wer die Verantwortung dafür übernehmen will, dass es nicht einfach „aufhört“ und abbricht, stellt sich von Jahr zu Jahr drängender.
Bewegende Lesung
Es wird nicht verwundern, wenn ich schreibe, dass die Lesung der Schülerinnen und Schüler des Küstengymnasiums auf mich den tiefsten Eindruck gemacht hat. Ich kann es so recht noch gar nicht in Worte fassen, was das in mir ausgelöst hat. Von Minute zu Minute fühlte ich mich mehr und mehr „unwirklich“: Zu hören, wie Thomas und die Jugendlichen meinen Vater gewürdigt haben, das hat mich zu Tränen gerührt.
Nach der Veranstaltung am Mahnmal sind wir mit den Schüler_innen und ihrem Lehrer ins Küstengymnasium gegangen. Hier haben wir noch eine gute Stunde zusammen verbracht und ich habe gesehen, dass diese Schüler_innen wirklich interessiert sind. Man muss wissen, dass die Teilnahme an dem Projekt keine schulische Pflichtveranstaltung war, sondern auf Freiwilligkeit beruhte.
Ich hatte mir auch vorgenommen, sie direkt zu fragen, wie solche „traditionellen“ Gedenkveranstaltungen auf sie wirken bzw. ob sie eine Gedenkveranstaltung anders gestalten würden. Überrascht war ich schon, als sie mir sagten, dass sie diese Form sehr angemessen finden. Betont haben sie auch, dass die Auseinandersetzung mit konkreten Personen und deren Biographien das Thema für sie erst richtig „anschaulich“ macht.
Zum Abschied haben die Schülerinnen und Schüler mir je einen persönlichen Brief an meinen Vater in die Hand gedrückt. Darin haben sie nicht nur ihre Gedanken und Empfindungen aus dem Projekt zusammengefasst, sondern auch noch Fragen an ihn formuliert.
Ich muss sagen: Diese Jungen und Mädchen haben mich beeindruckt. Ihre Ernsthaftigkeit und Nachdenklichkeit haben mich auch überrascht und mein Bild von „der Jugend“ um eine äußerst positive Erfahrung bereichert.
Gemeinsam die Erinnerung wach halten
Das Kooperationsprojekt mit dem Küstengymnasium ist daher genau die richtige Antwort auf die Frage zur Zukunft des Gedenkens: Es können nur die jungen Leute von heute sein. Wenn wir es schaffen, in ihren Köpfen und Herzen Neugier und Empathie zu „verwurzeln“, dann mache ich mir zwar immer noch Sorgen um die Zukunft des Gedenkens, weil es wahrscheinlich immer zu wenige sein werden, denen das ein Anliegen ist, aber einen anderen Weg sehe ich nicht.
Natürlich werden wir immer auch starke Partner im politischen Raum und in den Medien benötigen, aber ohne Menschen vor Ort, denen das Gedenken ein Herzensanliegen ist, geht gar nichts.
Dem Bürgermeister von Neustadt habe ich einen Brief geschrieben und ihm bzw. der Gemeinde zu dieser Schule und ihrem engagierten Lehrerkollegium gratuliert.
Verbundenheit
So habe ich in diesem Jahr Anschluss gefunden an die Arbeitsgemeinschaft Neuengamme – nach über 70 Jahren schließt sich der Kreis zum Juni 1948.
Ich danke euch allen für die warmherzige und freundschaftliche Aufnahme.