Am 29.4. 2016 stellen Martine Letterie, Enkelin des niederländischen Kommunisten Martinus Letterie, der im KZ Neuengamme ermordet wurde, und ihr Ehemann Rinke Smedinga, Sohn eines niederländischen Mitglieds der Wachmannschaften des Durchgangslagers Westerbork, in der Bar GOLEM (Große Elbstraße 14, 22767 Hamburg) um 19 Uhr in der gemeinsamen Lesung „Ein Krieg von zwei Seiten. Zwei Personen, zwei Perspektiven“ ihre Familiengeschichte und deren Einfluss auf ihr Leben und ihre Beziehung vor. Für Reflections on Family History Affected by Nazi Crimes sprach Ulrich Gantz mit ihnen.
Ulrich Gantz: Ihr beide macht gemeinsam die Lesung “Der Krieg von zwei Seiten”. Wir fangen mal mit Dir, Martine, an: Was geht Dich der Krieg noch an?
Martine Letterie: Ich bin nach meinem Großvater Martinus Letterie Martine genannt worden. Ich bin aufgewachsen mit den Geschichten, die über den Vater meines Vaters erzählt wurden. Er wurde im Konzentrationslager Neuengamme ermordet. Bei meiner Oma stand sein Foto auf dem Kaminsims. Als ich ein Kind war, fand ich die Geschichten spannend. Jetzt, als Erwachsene, habe ich eine andere Sichtweise darauf.
Ulrich Gantz: Ist das nun Geschichte oder auch heute noch wichtig?
Martine Letterie: Ich bin Vorsitzende des Vriendenkring (dt.: Freundeskreis) Neuengamme. Da sehe ich jeden Tag, wie sehr sich der Krieg auch noch in den folgenden Generationen auswirkt. Außerdem denke ich, hoffe ich, dass wir aus dem Krieg etwas lernen. Mein Opa wurde beispielsweise verhaftet, weil er auf einer alten Liste des niederländischen Geheimdienstes stand. Nun nehmen junge Menschen in den Niederlanden den Schutz ihrer persönlichen Daten ziemlich auf die leichte Schulter. Sie sagen, dass sie nichts zu verbergen haben. Das verändert sich in dem Moment, in dem jemand, der bösen Willens ist, ihre Daten in die Hände kriegen sollte.
Ulrich Gantz: Rinke, was ist mit Dir und dem Krieg? Was ist Deine Beziehung dazu?
Rinke Smedinga: Mein Vater, ein Niederländer, war Nazi. Er gehörte zu den ersten niederländischen Freiwilligen, die eine SS-Ausbildung durchliefen. Er ging zurück in die Niederlande, um bei der deutschfreundlichen „staatspolitie“ (Staatspolizei) zu arbeiten. Unter anderem war er Bewacher im Lager Westerbork, dem Durchgangslager für die niederländischen Juden. Gegen Ende des Krieges trat er bei der deutschen Ordnungspolizei in Groningen in den Dienst. Und nach dem Krieg hat er das nicht bereut. Er stand also nicht nur während des Krieges auf der falschen Seite, sondern auch danach.
Ulrich Gantz: Ihr seid seit über 20 Jahre miteinander verheiratet. Wie geht das, bei diesem Hintergrund?
Rinke Smedinga: Ganz normal, weil wir uns lieben. Wir haben ein richtig schönes Leben, unabhängig vom Krieg, und das haben wir auch immer gehabt. Der Krieg hängt nicht wie ein schwerer Klotz an unseren Beinen. Er verbindet uns, ganz tief, in der Abscheu vor dem, was damals geschehen ist, in der Angst, dass wir die Opfer und die Helden vergessen und vor allem, dass wir nicht genug aus dem Krieg lernen: dass wir nicht wachsam genug sind. Das ist unsere gemeinsame Mission, und dabei hilft uns, dass wir es von zwei Seiten sehen können: von der der Opfer und der der Täter.
Ulrich Gantz: Seit 2015 veranstaltet ihr gemeinsam Lesungen über Eure Familiengeschichten und ihre Bedeutung für Euer gemeinsames Leben. Was sind die Reaktionen des Publikums auf Eure Auftritte?
Rinke Smedinga: Interessiert, emotional und ab und zu schockiert. Das Bild vom Krieg wird immer vager und blasser. Die Geschichte des Holocaust kennt allerdings zum Glück fast jeder. Aber wie das nun wieder genau war mit den Kommunisten, den politischen Gefangenen und mit den niederländischen Tätern und Verrätern, das ist ziemlich unbekannt. „Mein Gott,“ hören wir dann, „das haben wir niemals gewusst.“ Das Publikum fühlt sich auch angesprochen von den Auswirkungen und Folgen nach dem Krieg. Besonders von den Details aus dem Alltag, so wie wir eine Lösung dafür finden mussten, was wir an den Geburtstagen unserer Kinder mit den Omas und den Opas machen. Die auffälligste Reaktion war die Flut von Fragen und Geschichten. Zum Glück haben wir für das Gespräch viel Zeit eingeplant. So eine Präsentation endet auch nicht, weil wir fertig sind. Wir hören auf, weil die Zeit um ist, aber das Gespräch geht häufig an der Bar noch weiter.
Martine Letterie: Die Art der Fragen und Reaktionen hängt auch vom Hintergrund der Fragensteller ab. Als wir in Westerbork sprachen, waren das ehemals Verfolgte und die Kinder von sowohl Opfern als auch Tätern anwesend. Für einen jüdischen Mann, der als Kind untergetaucht war und so überlebt hatte, war es zum Beispiel sehr schwierig. Hinterher sagte er, dass er es schon beim Zuhören Mühe hatte, einen Unterschied zwischen Rinke und seinem Vater zu machen. Das fand ich nachvollziehbar, aber für uns schwierig.
Ulrich Gantz: Am 29. April lest Ihr in Hamburg, im Land der früheren Besatzungsmacht. Mit was für Gefühlen, Erwartungen kommt Ihr?
Martine Letterie: Ich finde, das ist etwas ganz Besonderes und auch eine sehr emotionale Angelegenheit. Als wir beide das erste Mal in den Niederlanden über dieses Thema sprach, war ich davon überrascht, wie bewegt ich davon war. Inzwischen bin ich darauf schon vorbereitet, aber wir machen uns jedes Mal sehr verletzlich. Jetzt ist es noch was ganz Besonderes, weil wir in der Stadt sprechen, in der mein Großvater begraben liegt.
Rinke Smedinga: Ich freue mich darauf. Ich habe positive Erinnerungen an Präsentationen über den Krieg, die ich in Deutschland halten konnte. Für mich stellt sich eine Verbindung dadurch her, dass es in Deutschland natürlich viel mehr Kinder und Enkel von Nazis gibt. Ich gehe von der Annahme aus, dass viele von ihnen – genau wie ich – sich mit dem Negativem auseinandersetzen mussten: mit traumatisierten Eltern, nicht beantworteten Fragen und Gefühlen wie Scham, Vorwurf und Ohnmacht. Mein romantischer Gedanke, meine Hoffnung, ist, dass wir uns begegnen und einander verstehen. Aber noch mehr hoffe ich, dass wir uns gemeinsam wiederfinden in dem Streben, den Krieg für etwas Positives zu nutzen. Dass wir aus den Fehlern unserer Eltern etwas lernen können und diese Erkenntnisse neuen Generationen mitgeben können. Für mich ist das eine Verantwortung, die wir haben und gleichzeitig eine nützliche Therapie. Wer neue Opfer verhindern will, muss auch verhindern, dass es neue Täter gibt. Nach meiner Überzeugung können die Kinder von Nazis dazu einen Beitrag leisten. Deutsche und Niederländer stehen Seite an Seite vor den Herausforderungen der Gegenwart.