Aus der Erinnerung verdrängte Verfolgte
Die Berichte von ehemaligen KZ-Häftlingen sind wichtige Quellen und erhellende Dokumente. Besonders seit dem Aufkommen der Oral History, einer Methode der Geschichtsforschung, die ihren Fokus auf die Gespräche mit den Zeitzeugen legt, finden die Berichte von Überlebenden besondere Aufmerksamkeit. Leider wird jedoch oft vergessen, dass die Berichte nur die Situation einiger weniger Gruppen von Verfolgten abbilden. Die Gruppen von Verfolgten, aus deren Mitte es keine Berichte gibt. werden immer mehr aus der Erinnerung verdrängt und geraten zusehend in Vergessenheit. Auch ihre Nachkommen sprechen bis heute sehr wenig über die Erfahrungen ihrer Verwandten. Teilweise wissen sie nicht genug, da das Thema in ihren Familien ein Tabu war. Manche schweigen, weil die Stigmatisierung fortwirkt. Schließlich gibt es aber auch etliche Verfolgte, die keine Nachkommen haben. Homosexualität, aber auch Zwangssterilisierung sind einige Gründe hierfür. Ich erhoffe mir daher durch diesen Artikel, nicht nur das Augenmerk auf die verdrängten Verfolgten zu lenken, sondern auch Kontakt zu ihren Angehörigen zu bekommen. Ihre Erzählungen, Briefe, Unterlagen etc. könnten als Puzzleteile helfen, das Bild dieser Verfolgten zu vervollständigen.
Gegen die Fortsetzung der Stigmatisierung
Obwohl die Verfolgungsgründe der Nationalsozialisten vielfältig waren, finden sich bis heute vor allem Zeugnisse von Menschen, die aus politischen Gründen oder als Juden verfolgt wurden. Die Stigmatisierung, mit der beispielsweise sogenannte Asoziale, angeblich Kriminelle oder angeblich Homosexuelle von den Nationalsozialisten ausgegrenzt wurden, wirkte auch nach Kriegsende fort. Manche von ihnen wurden weiterhin verfolgt, ihre KZ-Haft nicht als Unrecht gesehen und ihnen eine Anerkennung als Opfer versagt. Dies bedeutete einerseits, dass ihnen nach dem Bundesentschädigungsgesetz eine materielle Wiedergutmachung vorenthalten war. Andererseits wurde ihnen zusätzlich erschwert, sich als gleichberechtigtes Opfer zu fühlen. Dies hat auch dazu geführt, dass ihre öffentlichen Berichte fehlen. Doch auch im Familienkreis wurde selten offen gesprochen. Dennoch sind die Erzählungen der Angehörigen sehr aussagekräftig. Schweigen, Andeutungen und bestimmte Verhaltensweisen können im Rückblick Auskunft geben über den Umgang des Betroffenen mit seiner Verfolgung. Die Berichte von Angehörigen könnten vor allem ein Gegengewicht sein zu den „Täterquellen“, z.B. den Akten der Staatsanwaltschaft, Gerichtsurteilen und Polizeiberichten, auf welche sich die wissenschaftliche Forschung derzeit vor allem stützt. Dass diese sehr mit Vorsicht zu lesen sind, steht außer Frage. Doch selbst bei sehr sensiblen Interpretationen, bleibt die Frage, inwieweit man dem Betroffenen gerecht wird.
Das Schicksal der Sicherungsverwahrten
Ich habe 2008 im Zuge meiner Magisterarbeit „Überstellt ins Konzentrationslager Neuengamme: Sicherungsverwahrung im Nationalsozialismus. Entstehung – Praxis – biographische Beispiele“ begonnen, mich mit den Sicherungsverwahrten während des Nationalsozialismus zu beschäftigen. Damals gab es kaum Literatur zu diesem Thema. Die wenigen Ausnahmen finden Sie in der Literaturliste. Diese Situation hat sich auch bis heute leider nicht deutlich geändert. Größere Regionalstudien zur Sicherungsverwahrung stehen nach wie vor aus.
Einführung und Anordnung der Sicherungsverwahrung
Dabei handelte es sich um keine kleine Verfolgtengruppe: zwischen 1934 und 1945 dürfte für etwa 16.000 Personen die Sicherungsverwahrung vor deutschen Gerichten beantragt worden sein. Die Sicherungsverwahrung war im November 1933 mit dem „Gesetz gegen den gefährlichen Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ in Deutschland eingeführt worden. Zur Anordnung konnte sie gebracht werden, wenn jemand bereits zwei Mal vorbestraft war, das Gericht ihn oder sie als „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ einstufte und die öffentliche Sicherheit als gefährdet ansah.
Die Art der Vorstrafen war unerheblich und konnte sich durchaus auch unterscheiden. Für das Gericht war somit nicht das Muster der Taten wichtig, sondern allein die Einschätzung der Wiederholungsgefahr genügte für die Annahme der „Gefährlichkeit“ der Betroffenen. Die Mehrheit von ihnen waren Personen, die wegen Vermögensdelikten vorbestraft waren, also eher als „Kleinkriminelle“ gelten können. Die Sicherungsverwahrung kam nach ihrer Einführung nicht nur bei aktuell Angeklagten zum Einsatz, sondern wurde zudem auch rückwirkend bei bereits verurteilten Gefängnisinsassen zur Anwendung gebracht. Damit erklärt sich auch die hohe Zahl der Anordnungen.
Verschärfte Haftbedingungen
Den Betroffenen wurde durch ihre Einstufung zum „gefährlichen Gewohnheitsverbrecher“ eine verschärfte Strafhaft und nach deren Verbüßung eine zeitlich unbegrenzte Inhaftierung in der Sicherungsverwahrung auferlegt. Vor Kriegsbeginn führten Überprüfungen in seltenen Fällen zu Entlassungen, wobei den Entlassenen anschließend durch Einschränkungen und Überwachungsmaßnahmen das Leben schwer gemacht wurde. Nach Kriegsbeginn waren Entlassungen nicht mehr vorgesehen.
1941 verschärfte sich die Situation weiter, da Gerichte nun für vermeintliche „Gewohnheitsverbrecher“ die Todesstrafe beantragen konnten. Einen weiteren, bedeutenden Einschnitt markiert das Jahr 1942. Im September desselben verständigten sich Reichsjustizminister Thierack und der Reichsführer SS und Chef der Deutschen Polizei Himmler auf die Abgabe der Sicherungsverwahrten an die Polizei. Dies bedeutete ihre Einlieferung in Konzentrationslager.
Sicherungsverwahrte im KZ Neuengamme
Für das KZ Neuengamme kann von 2347 Sicherungsverwahrten Häftlingen ausgegangen werden. Von ihnen starben mindestens 1079, welche namentlich bekannt sind. Damit gehören sie zu einer der Häftlingsgruppen mit der höchsten Todesrate. Dies verweist auf ihre niedrige Stellung in der Lagerhierarchie.
Für die von mir untersuchten 1016 Personen, für welche in Hamburg während des Nationalsozialismus die Sicherungsverwahrung vorgeschlagen wurde, kam es in 785 Fällen zur Anordnung eben dieser. Bei den 37 betroffenen Frauen konnte ich 6 Todesfälle im KZ nachweisen, bei den 748 Männern 144. Dazu kommen drei Frauen und 67 Männer, die bereits in Justizhaft verstorben waren sowie 12 Männer, die zum Tode verurteilt wurden. Demnach ist gesichert von 232 Personen auszugehen, die das Kriegsende nicht erlebt haben; die reale Zahl der Toten wird jedoch noch höher liegen. Demgegenüber stehen 96 Menschen, für welche ich ein Überleben nachweisen konnte.
Die Sicherungsverwahrten waren während des Nationalsozialismus jedoch nicht nur von langer Justizhaft, der Todesstrafe und KZ bedroht. Zusätzlich erlebten einige von ihnen Entmündigungen, Zwangssterilisierungen oder Kastrationen. Selbst wenn sie also das Kriegsende erleben konnte, blieb ihr weiteres Leben gekennzeichnet.
Die Sicherungsverwahrten in der Darstellung ihrer ehemaligen Mithäftlinge
Die Nachkriegsschilderungen von Mithäftlingen über die kriminalisierten KZ-Häftlinge fallen relativ ambivalent aus. So gibt es Überlebende, welche die BV- und SV-Häftlinge als Helfer der SS charakterisieren und ihnen ein brutales, rücksichtsloses auf eigene Vorteile bedachtes Verhalten bescheinigen. Demgegenüber finden sich jedoch auch Aussagen, die solidarisches und freundliches Handeln schildern.
Auch in dem Fall der kriminalisierten Häftlinge sagt die SS-Kategorisierung also nichts über den tatsächlichen Charakter der Einzelnen aus. Diese recht simple Erkenntnis ist jedoch bis heute vielfach in der Öffentlichkeit noch nicht angekommen und führt zu einer fortdauernden Stigmatisierung der Betroffenen.
Eine Erinnerungskultur für alle Verfolgtengruppen und ihre Angehörigen
Die Berücksichtigung aller KZ-Häftlinge, unabhängig ihrer Haftgruppe, darf nicht nur ein wissenschaftliches Ziel sein. Wenn auch die vergessenen und verdrängten Opfer in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit angekommen sind, wird es hoffentlich auch den Angehörigen dieser Gruppen leichter fallen, sich zu äußern und die Erinnerungskultur mitzugestalten.
Wenn Sie Informationen haben, die Sie mit Frau Katharina Möller teilen möchten, schreiben Sie eine E-Mail an die Redaktion von Reflections on Family History Affected by Nazi Crimes (info@rfhabnc.org). Wir reichen Ihre E-Mail dann schnellstmöglich weiter.
Literaturliste
KZ-Gedenkstätte Neuengamme (Hg.) 2009. Ausgegrenzt: „Asoziale“ und „Kriminelle“ im nationalsozialistischen Lagersystem, Bremen: Ed. Temmen.
Möller, Katharina 2009. Überstellt ins Konzentrationslager Neuengamme. Sicherungsverwahrung im Nationalsozialismus. Entstehung – Praxis – biographische Beispiele. Hamburg.
Möller, Katharina 2015. „Ich halte die Sicherungsverwahrung für das einzige Mittel, die Allgemeinheit von der Beschuldigten zu befreien.“ Über weibliche Sicherungsverwahrte während des Nationalsozialismus in Hamburg, in: Brenneisen, Marco, Eckel, Christine, Haendel, Laura & Pietsch, Julia (Hg.): Stigmatisierung, Marginalisierung, Verfolgung, Beiträge des 19. Workshops zur Geschichte und Gedächtnisgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager, Berlin: Metropol Verlag, 75-95.
Wachsmann, Nikolaus 2001. From Indefinite Confinement to Extermination: „Habitual Criminals“ in the Third Reich, in: Gellately, Robert & Stoltzfus, Nathan (Hg.): Social Outsiders in Nazi Germany, Princeton u.a.O.: Princeton University Press, 165-191.
Wachsmann, Nikolaus 2006. Gefangen unter Hitler. Justizterror und Strafvollzug im NS-Staat, München: Siedler 2006.
Wagner, Patrick 2005. Volksgemeinschaft ohne Verbrecher. Konzeptionen und Praxis der Kriminalpolizei in der Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus, Göttingen: Wallstein Verlag.
Wagner, Patrick 1991: Feindbild „Berufsverbrecher“. Die Kriminalpolizei im Übergang von der Weimarer Republik zum Nationalsozialismus, in: Bajohr, Frank, Johe, Werner & Lohalm, Uwe (Hg.): Zivilisation und Barbarei. Die widersprüchlichen Potentiale der Moderne, Hamburg: Christians, 226-252.