2015 zog Arend Hulshof, Vorstandsmitglied des Vriendenkring Neuengamme, mit seiner Familie in die Hendrik Dienskestraat in Amsterdam. Es stellte sich heraus, dass die Straße nach einem antirevolutionären* Widerstandshelden benannt ist, der im KZ Neuengamme ums Leben kam. Im selben Lager starb Hulshofs Urgroßvater, über den er das Buch „Rijpstra’s ondergang“ schrieb.
Straßennamen sind nicht genug, um die Geschichten derer, an die sie erinnern, am Leben zu erhalten.
Ich hatte meinen Opa oft nach spannenden Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg gefragt. Lange musste ich mich mit Lausbubengeschichten aus seiner Jugend in den zwanziger Jahren zufriedengeben. Dorfpolizist Jansen bewahrte die Kiebitzeier, die er fand, immer unter seiner Mütze auf. Ein Spaßvogel aus dem Dorf gab ihm einen Klaps auf den Kopf und der Schweinkram lief ihm über seine Wangen. Aber als ich ungefähr sieben Jahre alt war, fanden meine Großeltern, dass ich groß genug war für die Kriegsgeschichten, die ich immer hören wollte. Sie nahmen mich mit in das Dorf Zelhem in der Achterhoek (Anm. d. Red.: im Osten der Niederlande bei Arnheim), in dem mein Opa geboren worden war
Im Zentrum parkte mein Opa sein Auto genau gegenüber der Dorfkirche. Nebenan lag das Gemeindehaus, in dem der Vater meines Opas als Bürgermeister gearbeitet hatte.
„Früher stand da die Dorfpumpe.“ Mein Opa zeigte auf eine Stelle vor dem Gebäude. „Jeder konnte da Wasser holen.“ Im Haus neben dem Gemeindehaus war er aufgewachsen mit zwei jüngeren Schwestern und einem 12 Jahre jüngeren Bruder.
In der Kneipe gegenüber dem Gemeindehaus trafen sich regelmäßig die NSB’er (Anm. d. Red.: Mitglieder von Nationaal Socialistische Beweging, nationalsozialistische Partei der Niederlande) zu ihren Versammlungen, erzählte mein Opa. „Der Besitzer war auf der falschen Seite.“ Wir liefen weiter. Er zeigte auf ein Straßenschild.
Burgem. Rijpstrastraat
Bürgermeister von Zelhem von 1921-1944
Starb in einem deutschen Konzentrationslager
Ich kannte die Geschichte meines Urgroßvaters nicht und fragte, was denn da passiert sei. „Er war im Lager Neuengamme“, sagte meine Großmutter. „Da musste er unter ganz schlechten Bedingungen schwer arbeiten. Außerdem hatte er schon vorher eine schwache Gesundheit.“ Wir liefen zurück zum Auto. Gegenüber der Kirche zeigte mir mein Großvater das Kriegsdenkmal, auf dem unter anderen auch der Name seines Vaters stand. Wir stiegen in seinen Mercedes, fuhren auf den Friedhof von Zelhem und besuchten das Grab meiner Urgroßeltern. Meine Urgroßmutter war kurz zuvor im Alter von 96 Jahren verstorben. Ich fragte meinen Opa, wie es sein konnte, dass sein Vater in Zelhem begraben lag und nicht in Deutschland. Er erzählte mir, dass er mit Hilfe des Roten Kreuzs den Leichnam nach dem Krieg in die Niederlande geholt hatte.
Bei ihnen Zuhause in Twente zeigten mir meine Großeltern das Widerstandserinnerungskreuz, das dem Altbürgermeister von Zelhem lange nach dem Krieg posthum verliehen worden war. „Wenn er zum Beispiel Holzhacker gewesen wäre anstatt Bürgermeister, wäre er dann stärker gewesen, so dass er die schwere Arbeit ausgehalten hätte und dadurch das Lager überlebt hätte?“ fragte ich vor dem Einschlafen. „Vielleicht ja“, sagte meine Oma
Die Vergangenheit ruhen lassen? Das ist natürlich das Letzte, was Du als Schriftsteller willst
Gut zwanzig Jahre später beschloss ich, ein Buch über meinen Urgroßvater zu schreiben. Seine Geschichte ging mir nicht aus dem Kopf und jetzt wollte ich alles über ihn wissen. Warum er verhaftet wurde? Wie er in das Lager gekommen war? Wie er umgekommen war?
Aber was mich vor allem interessierte, war die Frage, wie es sein konnte, dass er bei seiner Verhaftung 1944 noch Bürgermeister war? War er ein Widerstandsheld, der zu Recht zu Beginn der achtziger Jahre posthum das Widerstandserinnerungskreuz bekommen hatte oder hatte er sich als Bürgermeister auch die Hände schmutzig machen müssen?
Ich entdeckte, dass letzteres der Wahrheit entsprach. Er hatte im Herbst 1940 auf Befehl der Nazis die Ariererklärung unterschrieben. Gut ein Jahr später ließ er, auch wieder einem Befehl der Besatzungsmacht gehorchend, Schilder mit „Für Juden verboten“ aufhängen. Juden, und später auch die anderen Bürger, mussten erst ihr Radio und später ihre Fahrräder abliefern.
Rijpstra ist jeder Forderung nachgekommen. Gleichzeitig, so entdeckte ich, leistete er aktiv Widerstand. Vorsichtig, auf seine Art. Er gab Berichte, die er auf Radio Oranje gehört hatte, an Widerständler in seinem Dorf weiter, Er sorgte dafür, dass junge Männer in Zelhem Arbeit hatten, die es ihnen ermöglichte, sich dem Arbeitseinsatz zu entziehen, und er hatte einen Beamten den Auftrag gegeben, Lebensmittelkarten beiseite zu schaffen und sie dem Widerstand auszuhändigen.
Das letzte sollte ihm zum Verhängnis werden. Im Juni 1944 wurde in Ruurlo, einem Nachbardorf, ein Untergetauchter verhaftet, der Lebensmittelkarten aus Zelhem bei sich hatte. Rijpstra und eine Anzahl Zelhemer Beamte wurden verhaftet und in Arnheim inhaftiert. Ende August wurde der Bürgermeister ins Lager Amersfoort überführt und im Oktober wurde er nach Neuengamme verbannt. Am 9. Dezember starb er in einem Außenlager in Hamburg, wo die Gefangenen Trümmer und Leichen nach den Bombenangriffen der Alliierten räumen mussten.
Nach dem Krieg wurde die Koestraat, an der das Zelhemer Gemeindehaus stand, in Burgemeester Rijpstrastraat umbenannt. Jan Langman, der Nachfolger meines Urgroßvaters, der 1946 Bürgermeister wurde, hatte meine Urgroßmutter gefragt, wie sie es finden würde, wenn die Straße, in der sie gut zwanzig Jahre lang mit ihrem Ehemann gewohnt hatte, nach ihm benannt würde. Das würde sie als große Ehre empfinden, berichtete der Bürgermeister dem Gemeinderat. So gut wie keiner in Zelhem war dagegen, auch wenn einige fanden, dass nicht die Koestraat, sondern eine andere Straße nach Rijpstra benannt werden soll. Sie fanden es schade, dass der historische Bezug verlorenging (Anm. d. Red.: „Koestraat“ bedeutet auf Deutsch „Kuhstraße“): Früher brachten die Dorfbewohner über diese Straße ihre Rinder auf die Gemeinschaftsweide, die Meene. An den Bäumen entlang der Burgemeester Rijpstrastraat findet man noch immer noch immer die Metallringe, an denen die Kühe damals festgemacht wurden.
Nach dem Erscheinen meines Buches im Frühjahr 2016 fragten einige Journalisten bei mir an, ob ich, nachdem ich entdeckt hatte, dass Rijpstra zum Beispiel auch Schilder mit „Verboten für Juden“ in seiner Gemeinde hatte aufhängen lassen, es immer noch angebracht war, dass eine Straße nach ihm benannt war.
Eigentlich hatte ich keine gute Antwort darauf. Ich bin nicht derjenige, der entscheidet, welchen Namen eine Straße haben soll. Aber persönlich finde ich, dass die Rijpstrastraat weiterhin die Rijpstrastraat heißen sollte. Mein Urgroßvater war ein beliebter Bürgermeister in Zelhem, der diese Position gut 23 Jahre innehatte. Damit war er der Bürgervater von Zelhem, der die längste Zeit im Amt war.
Im Buch wollte ich meinen Opa nicht verschonen und habe genau aufgeschrieben, was und was nicht er für und gegen den Besatzer getan hatte, ohne darüber ein Urteil zu fällen. Doch gibt es Zelhemer, die finden, dass ich an meinem Urgroßvater Rufmord verübt habe. Ich sollte die Vergangenheit ruhen lassen. Als Schreiber des Buches ist es natürlich das Letzte, was ich wollte.
Der Widerstand wollte ein Gefängnis überfallen, um Dienske zu befreien, aber das ging schief
Während ich an dem Buch schrieb, zog ich im Frühjahr 2015 mit meiner Familie um in die Hendrik Dienskestraat in Amsterdam-West. Am Ende der kleinen Straße hängt ein Straßenschild mit einem ausführlichen Text:
Hendrik Dienskestraat
Slotermeer
Geboren am 30.6.1907 in Schiedam. Prokurist. Ab 1940 herausragende Person im anti-revolutionären Widerstand. Schloss sich 1943 der „Landelijke Organisatie“ an. Ab Oktober 1943 Leiter der L.O. Nord-Holland. Gestorben am 16.2.1945 im Konzentrationslager Neuengamme bei Helmstedt.**
Ich fragte Sietse Geertsema, ehemals im Vorstand des Vriendenkring Neuengamme, der damals noch für den Vriendenkring Neuengamme die Datenbank über die Häftlinge pflegte, ob er mehr wusste über diesen mir unbekannten Widerstandskämpfer. Er bestätigte viele der Angaben über Dienske, der Henk gerufen wurde, die auf dem Straßenschild standen. Er schrieb auch, dass er der Reformierten Kirche angehörte – er war Gemeindeältester in der Waalkirche in Amsterdam-Süd. Außerdem war Dienske Mitglied in der Anti-Revolutionaire Partij*. Mein Urgroßvater war auch in der Partei, obgleich er nicht in der Reformierten, sondern in der Nederlands Hervormde Kirche war.
Für weitere Informationen über Hendrik Dienske verwies mich Sietse unter anderem auf die Internetseite www.zuidelijkewandelweg.nl, Dort steht ein Artikel über den Widerstand in der Amssterdamer Rivierenbuurt (Flüsseviertel) während des Krieges. Über Dienske gibt es auch eine Seite bei Wikipedia, und er wird in eingen Büchern genannt, darunter Hun Naam Leeft Voort…, ein Buch über Kriegsopfer, nach denen Straßen benannt sind. Auch mein Urgroßvater kommt in diesem Buch vor.
Dienske war nicht irgendjemand im Widerstand. Im Mai 1940 war er an den Kämpfen in Rotterdam beteiligt. Er war Oberleutnant der Reserve. Danach kam er dann zur illegalen Arbeit; vielleicht durch den bekannten Widerstandskämpfer Johannes Post, mit dem er verwandt war und nach dem eine Straße ein paar hundert Meter weiter im selben Amsterdamer Viertel benannt ist. Dienske gab sich den Decknamen „Henk de Ridder“. Er arbeitete zusammen mit Gerrit van der Veen, wurde für Nord-Holland Leiter der Landelijke Organisatie voor Hulp aan Onderduikers (Landesweite Organisation für Hilfe für Untergetauchte), war im Schulwiderstand, arbeitete bei der illegalen Zeitung Trouw mit und hatte Kontakt mit einer Fälschergruppe in der Gegend um Zaandam.
Dienske wohnte in der Dintelstraat in der Rivierenbuurt. Dort leitete er die Widerstandsgruppe „De Kern“, die Untergetauchten half. Dienske hatte selbst jüdische Untergetauchte bei sich in seinem Haus aufgenommen.
Am 4. April 1944, Dienstagabend, machte der Sicherheitsdienst einen Überall auf ein Haus in der Alblasstraat. Die SD-Leute hofften, Dienske zu ergreifen, aber der war nicht da. Es wurden aber einige andere Menschen verhaftet, darunter Dienskes Eltern.
Ein paar Wochen später wurde Henk Dienske doch noch in eine Falle gelockt. Ein 21-jähriges Mädchen hatte bei ihm angerufen und ein Treffen in einer Kneipe am Spui in Amsterdam verabredet. Dort wurde Dienske vom SD verhaftet. In seiner Tasche befand sich viel belastendes Material. Dienske wurde im berüchtigten Gefängnis an der Weteringschans inhaftiert.
Der Widerstand plante einen Überfall auf das Gefängnis, um ihn und andere zu befreien, aber das lief schief. Ende Juni verlegten die Nazis Dienske ins Lager Vught. Gut zwei Monate später kam er auf einen Transport in das KZ Sachsenhausen. Möglicherweise war er in dem gleichen Zug wie Klaas Wieringa, der Gemeindesekretär von Zelhem und einer der besten Freunde meines Urgroßvaters, der auch um die Zeit aus Vught in das Konzentrationslager nördlich von Berlin transportiert wurde. Wieringa sollte den Krieg gerade noch überleben. Dienske wurde Mitte Oktober nach Neuengamme gebracht. Seine Lagernummer ist unbekannt. Fest steht, dass er am 16. Februar im Außenlager Beendorf starb, wo er Arbeit in den Salzminen vom Helmstedt hatte verrichten müssen.
Obwohl sie beide Mitglied in der ARP, tief gläubig waren und im KZ Neuengamme ums Leben kamen, waren Dienske und Rijpstra zwei völlig unterschiedliche Personen. Der eine war ein unerschrockener Widerstandskämpfer, der trotz der Gefahr für sein eigenes Leben Untergetauchten half und sie sogar in seinem Haus versteckte. Der andere war ein Bürgermeister, der versuchte, das Schlimmste zu verhindern. Alle beide haben sie auf ihre Weise versucht, anderen zu helfen. Ob einer von ihnen es mehr verdient, dass eine Straße nach ihm benannt wird, weiß ich nicht. Aber ich bin mir sicher, dass es nicht ausreicht, eine Straße nach ihnen zu benennen, um ihre Geschichten am Leben zu erhalten.
Übersetzung von Ulrich Gantz
*Anm. d. Red.: Die Anti-Revolutionaire Partij (ARP) war die erste christdemokratische politische Partei der Niederlande, einem Vorläufer der CDA (Christen-Democratisch Appèl)
** Anm. d. Red.: Helmstedt war ein Außenlager des KZ Neuengamme. Das Hauptlager Neuengamme lag auf dem Hamburger Stadtgebiet. Zum Komplex Neuengamme gehörten aber auch über 80 Außenlager in ganz Nordwestdeutschland. Das KZ Helmstedt-Beendorf lag in Sachsen-Anhalt.