Im November 2020 fand das Forum „Zukunft der Erinnerung“ der KZ Gedenkstätte Neuengamme aufgrund der Corona-Pandemie erstmals als Videokonferenz statt. In diesem Rahmen stellte Balbina Rebollar im Gespräch mit Alexandre Froidevaux die im Sommer 2020 offiziell gegründete spanische Amical de Neuengamme vor.
Alexandre Froidevaux: Balbina, ihr habt vor kurzem in Spanien eine Vereinigung von Nachfahren ehemaliger Neuengamme-Häftlinge gegründet. Erzählst du uns bitte ein wenig darüber, wie eure Amical de Neuengamme entstanden ist?
Balbina Rebollar: Ich bin Balbina Rebollar, Präsidentin der spanischen Amical de Neuengamme. Ich bin die Tochter des Deportierten Evaristo Rebollar. Mein Vater kam am 24. Mai 1944 in einem Konvoi aus Compiègne in das Konzentrationslager Neuengamme. Er bekam die Nummer 32042. Später verschleppten sie ihn in das Außenlager Beendorf-Helmstedt. Am Ende des Krieges kam er in das Auffanglager Wöbbelin, wo die US-Amerikaner ihn befreiten.
Im Dezember 2019 begann eine Gruppe von Familienangehörigen spanischer Häftlinge des Konzentrationslagers Neuengamme, eine Vereinigung auf den Weg zu bringen. Die Vereinigung wurde schließlich am 9. Juni 2020 vom Innenministerium zugelassen.
Unser Wunsch war es von Anfang an, die Existenz von etwa 600 spanischen Republikanern bekannt zu machen, die nach dem Spanischen Bürgerkrieg 1939 ins Exil nach Frankreich gingen. Später wurden sie von den Nazis auf französischem Territorium gefangen genommen und in das KZ Neuengamme deportiert, da sie als Feinde des Nationalsozialismus galten. Sie waren so genannte „Rotspanier“, die zu den am wenigsten bekannten und zu den vergessenen Opfergruppen des Nazi-Völkermords gehören.
Die Existenz des Konzentrationslagers Neuengamme ist in Spanien nahezu unbekannt. Auch in Hamburg und allgemein in Deutschland ist kaum bekannt, dass im KZ Neuengamme auch Spanier waren. Denn als die Nazis sie aus Frankreich deportierten, sahen sie diese Personen häufig als Franzosen an, obwohl sie spanischer Herkunft waren. Es gibt in Spanien Amicales anderer KZ, deren Geschichte bekannt ist, aber die Existenz des Lagers Neuengamme, und was dort geschah, ist in meinem Land völlig unbekannt. Daher sind die Geschichten unserer Verwandten unbekannt und so ist es schwierig, sie zu ehren und dieses jahrzehntelange Vergessen wiedergutzumachen. Ich möchte betonen, dass wir eine offene Vereinigung sind: offen nicht nur für alle Angehörigen der Deportierten, sondern auch für alle Menschen, die die Erinnerung an die Deportierten und das Wissen über deren Geschichten fördern möchten.
Alexandre Froidevaux: Wie viele Menschen sind denn Teil eurer Amical und woher kommen eure Mitglieder?
Balbina Rebollar: Wir haben momentan 32 Mitglieder, die aus verschiedenen Teilen Spaniens kommen: aus Asturien im Norden, aus dem Baskenland, Kastilien, Madrid, Andalusien, Murcia und Katalonien. Und wir haben auch ein paar Mitglieder in Frankreich.
Alexandre Froidevaux: Wie erklärt sich, dass die Geschichte der Deportationen eurer Verwandten derart ins Vergessen geriet?
Balbina Rebollar: In Spanien war es lange Zeit ein Tabuthema, über die Opfer der Franco-Diktatur, des Franquismus, und damit über die Deportierten zu sprechen. Man muss sich klar machen, dass viele Menschen, die während des Bürgerkriegs verschwanden, am Ende in Deutschland in Konzentrationslagern starben. Die Gesellschaft wie ihre eigenen Familien wussten bis vor kurzem nichts über das Schicksal dieser Menschen. Und es gibt immer noch Familien, die nichts über den Verbleib ihrer Verwandten wissen. Die Wunden dieser Barbarei, von der ein großer Teil der spanischen Gesellschaft betroffen war, sind noch immer offen und nicht geheilt.
Denken wir daran, dass es bis ins Jahr 2007 dauerte, bis unter dem sozialistischen Regierungschef José Luis Rodríguez Zapatero das erste Gesetz zur historischen Erinnerung verabschiedet wurde. Dieses Gesetz war zudem unzureichend und wurde daher von den Erinnerungsinitiativen stark kritisiert. Obendrein setzte der nachfolgende konservative Ministerpräsident Mariano Rajoy das Gesetz de facto außer Kraft, indem er einfach kein Budget für dessen Umsetzung zur Verfügung stellte.
Nun arbeitet die aktuelle linke Zentralregierung endlich an einem neuen demokratischen Erinnerungsgesetz. Den Entwurf kennen wir aber noch nicht. Es scheint, dass das Gesetz weiter gefasst und mit einem besseren Budget ausgestattet sein soll, aber es muss erst noch vom Parlament in Madrid verabschiedet werden. Hoffen wir, dass dieses Gesetz die Wiedergutmachung und Anerkennung unserer jüngsten Geschichte auf den richtigen Weg bringt.
In den Autonomen Gemeinschaften (ähnlich der Bundesländer in Deutschland) gibt es auch diverse erinnerungskulturelle Anstrengungen, jedoch in verstreuter Form und sie hängen auch von der politischen Sensibilität der jeweiligen Regierung ab.
Alexandre Froidevaux: Welche Aktivitäten entfaltet ihr momentan mit eurer Amical?
Balbina Rebollar: Wir haben eine Anfrage an den Staatssekretär für demokratische Erinnerung, Herrn Fernando Martínez López, gerichtet, damit der spanische Staat mit dem internationalen Archiv von Bad-Arolsen zusammenarbeitet. Spanien soll digitale Kopien der Bestände aus Arolsen erhalten, damit Familienangehörige, Forscher*innen und Historiker*innen die Informationen über unsere Deportierten einsehen können.
Vor kurzem haben Vertreter unserer Amical, gemeinsam mit anderen Deportiertenverbänden, an der Ausstellung „Stolen Memory“ im Exilmuseum von Junquera an der Grenze zu Frankreich teilgenommen. Viele unserer Mitglieder trugen zur Ausstellung bei, indem sie Gegenstände von ihren nach Neuengamme deportierten Verwandten zur Verfügung stellten.
Wir haben ein Forschungsprojekt über unsere Deportierten eingeleitet, mit dem wir eine Liste aller in das Lager Neuengamme deportierten Personen unseres Landes erstellen wollen. Eine vollständige Auflistung zu erhalten, ist eine Verpflichtung unserer Gesellschaft.
Wir erbitten auch um so viele Unterlagen wie möglich über jede Person, indem wir uns an Standesämter, Rathäuser sowie spanische, französische und deutsche Archive usw. wenden. Damit wollen wir ihre Geschichten rekonstruieren, eine nach der anderen, zusammen mit den Geschichten ihrer Familien oder nur die individuellen, falls es nicht anders möglich ist. Wir wollen, dass diese Geschichten in den Medien veröffentlicht werden, damit sie Teil des Lernprozesses unserer Gesellschaft werden.
Alexandre Froidevaux: Auf welcher Art und Weisen möchtet ihr denn die Geschichten eurer Deportierten bekannt machen?
Balbina Rebollar: Wir beabsichtigen, eine eigene Website einzurichten, auf der wir alle von uns gesammelten Informationen zur Verfügung stellen können, so dass Familienangehörige, Forscher*innen, Historiker*innen und unsere Studierenden Zugang zu diesem Teil ihrer Vergangenheit und unserer Geschichte haben und etwas darüber erfahren können. Ein weiteres Projekt ist die Publikation eines Buches, in dem alle Biographien unserer Deportierten des KZ Neuengamme zusammengestellt sind. Ihre Geschichten sind unser Gedächtnis und sollten nicht vergessen werden.
Die Verbreitung dieser Geschichten ist eines unserer Hauptziele. Daher werden wir Gespräche in Schulen und an anderen Orten organisieren, in denen Angehörige, Historiker*innen und Expert*innen auf diesem Gebiet ihr Wissen weitergeben.
Wir werden auch die Zeugenaussagen der Familien aufnehmen, die wir dann bei solchen pädagogischen Gesprächen nutzen werden. Viele der Familien haben das Gefühl, dass ihre Geschichten nicht gehört wurden und ihre Leiden nie geheilt wurden. Die Wiedergutmachung für all diese Familien kommt spät, aber das ist genau der Grund, warum wir dieses Projekt ins Leben gerufen haben. Die Anerkennung durch die staatlichen Institutionen und die Anerkennung durch die Gesellschaft steht noch aus.
Alexandre Froidevaux: Wie nutzt ihr die Medien für eure Erinnerungsarbeit?
Balbina Rebollar: Auf individueller Ebene sind einige von uns in Zeitungen, im Radio und im Fernsehen in verschiedenen Autonomen Gemeinschaften erschienen und aufgetreten und wir haben die Geschichten unserer Verwandten erzählt. Aber die Medien, mit denen wir uns gewöhnlich bekannt machen, sind soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter. Auf Facebook sind wir am aktivsten.
Alexandre Froidevaux: Wie beeinträchtigt die Pandemie eure Erinnerungsarbeit?
Balbina Rebollar: Die Pandemie beeinträchtigt unsere Arbeit sehr, denn wir hatten geplant, unsere Amical an mehreren Orten in Spanien vorzustellen, was wir vorerst verschieben mussten. Im Moment konzentrieren wir uns daher auf das Forschungsprojekt.