Die Arbeitsgemeinschaft Neuengamme besucht die Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen
Mehr als vier Stunden sind wir schon unterwegs, als wir am 7. September 2019 endlich aus dem Zug steigen. Aus Hamburg und Berlin sind wir auf Einladung der Arbeitsgemeinschaft Neuengamme e.V. (AGN) gekommen. Neben Mitgliedern des AGN-Vorstands sind auch die Generalsekretärin der Amicale Internationale KZ Neuengamme (AIN) und die Präsidentin des Young Committee der AIN sowie Freund_innen und Unterstützer_innen angereist. Anlass ist ein Besuch in der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen. Sie ist den Opfern des Massakers gewidmet, das dort am 13. April 1945 an 1016 KZ-Häftlingen verübt wurde. Andreas Froese, der Leiter der Gedenkstätte, wird uns durch die Gedenkstätte begleiten.
Ein Erinnerungsort im Wandel
Nach einer kurzen Fahrt mit dem Rufbus kommen wir endlich in der Gedenkstätte an, wo wir schon erwartet werden. Unsere erste Station ist der Bauzaun. Hier entsteht das neue Besucher- und Dokumentationszentrum. Leider können wir es nicht von innen besichtigen. Die Bauleitung hat es noch nicht für Besucher_innen freigegeben. Von außen bekommen wir jedoch einen guten Eindruck davon, wie sich der Bau in die Anlage der Gedenkstätte einfügt. Das Gebäude liegt am Ende des Zufahrtswegs und verläuft parallel zu dem Feldweg, auf dem die KZ-Häftlinge zur Feldscheune getrieben wurden. Ein Blick durchs Fenster lässt erahnen, welche Möglichkeiten es hier bald geben wird, sich Exponate anzuschauen, an Multi-Media-Stationen Informationen zu erhalten und mit Gruppen pädagogisch zu arbeiten.
Andreas Froese führt uns ein paar Schritte weiter. Hier kreuzen sich die Wege zu den zentralen Orten der Gedenkstätte. In einiger Entfernung erblicken wir eine rekonstruierte Mauer der Feldscheune. Sie gehört zusammen mit den Feuerschalen und der Statur des im KZ Mittelbau-Dora ermordeten Widerstandskämpfers Albert Kuntz zu den Kernelementen der zu Zeiten der DDR errichteten Mahn- und Gedenkstätte.
Herr Froese erzählt von der Vorgeschichte des Massakers, dem Tathergang und den Tätern. Ich denke an die vollkommen erschöpften Menschen, die sich den Weg entlang schleppen mussten. Die Jüngsten unter ihnen waren fast noch Kinder, gerademal 16 Jahre alt. Ich versuche mir vorzustellen, wer sie gewesen sind, bevor sie in verschiedenen Konzentrationslagern von den Nazis geschunden wurden. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs wurden sie als zu schwach von der SS eingestuft, um das Konzentrationslager Hannover-Stöcken und einige Außenlager des KZ Mittelbau-Dora zu Fuß zu verlassen. Stattdessen wurden sie mit Zügen auf Räumungstransporte geschickt. In der Altmark ging es wegen zerstörter Gleisanlagen nicht weiter. Sie wurden gezwungen, nach Gardelegen zu marschieren. Dort entschied der NSDAP-Kreisleiter Thiele zusammen mit Vertretern der SS, des Heeres und der Luftwaffe ihre Ermordung.
Den Ermordeten ihre Geschichte zurückgeben
In kleinen Grüppchen ziehen wir zum Ehrenfriedhof. Der Blick auf die Gräber mit ihren weißen Kreuzen und Davidssternen macht das Ausmaß dieses Verbrechens greifbar. Nur 305 der 1016 Opfer konnten identifiziert werden. „Unbekannt“ steht daher auf vielen Grabmarkierungen.
Während wir hier den Ausführungen von Andreas Froese zuhören, bekommen wir nicht nur einen Eindruck seines umfangreichen Wissens. Wir spüren auch die Leidenschaft und Empathie, die ihn bei seiner Arbeit voranbringt, und erahnen, wie er mit sanfter Überzeugungskraft die Erinnerungskultur in der Region voranbringt. So erlaubt er sich ein Lächeln, als er uns von der Nichte eines der Opfer erzählt, die die sterblichen Überreste ihres Onkels in seine Heimat überführen wollte, aber ihre Meinung änderte, als sie den gepflegten Friedhof sah.
Überhaupt misst Andreas Froese der Arbeit mit Nachkommen viel Bedeutung zu. Wenn Menschen nach langer Recherche endlich Gewissheit darüber bekommen, was ihren Verwandten zugestoßen ist, freut sich Andreas Froese mit ihnen. Stolz zeigt er uns im Gedenkbuch einen kürzlich neueingetragenen Namen. Wieder konnte ein Opfer der Anonymität entrissen werden.
Für und mit der Region
Viel haben wir zu diesem Zeitpunkt schon gehört über die Verbindungen zwischen den Tätern und der Region. Umso überraschter sind wir darüber, dass noch heute einige Familien aus Gardelegen persönlich einzelne Gräber pflegen. Überhaupt genießt die Gedenkstätte Rückhalt in der Stadt, darf Räumlichkeiten wie die Stadtbibliothek für Veranstaltungen nutzen und steht im Dialog mit den an den Erinnerungskultur interessierten Stadtvertreter_innen und Bürger_innen.
Ein Teilnehmer wundert sich, warum Andreas Froese mit der Tradition gebrochen hat, die Gedenkfeier in Gardelegen immer exakt am 13. April stattfinden zu lassen, auch wenn sie auf einen Freitag fällt. Der Gedenkstättenleiter erklärt, dass es für gläubige Juden nicht möglich sei, am Shabbat zu reisen.
„Wenn ich also den Rabbiner aus Magdeburg für eine Gedenkfeier am Freitag oder Samstag einladen würde, käme dies einer Ausladung gleich.“
Trotz des leichten Unmuts, der ihm zunächst entgegenschlug, hält Andreas Froese auch daran fest, dass die Gedenkfeiern am Gedenkstein auf dem Ehrenfriedhof stattfinden und nicht mehr auch vor der rekonstruierten Mauer der Feldscheune. Jetzt bleiben die meisten für die komplette Gedenkveranstaltung und gehen nicht schon nach den Reden. Auf dem Friedhof geht es um die Opfer. Dieses Gedenken ist Andreas Froese wichtig.
Dass endlich allen Opfern würdevoll gedacht wird, ist eins von Andreas Froeses Zielen. Er stellt damit die zu Zeiten der DDR etablierten Traditionen in Frage. Entsprechend der Erinnerungskultur in der DDR wurden alle Opfer des Massakers zu antifaschistischen Kämpfern gemacht. Für Einzelschicksale war damit kein Platz, insbesondere nicht für die der jüdischen Opfer.
Eintreten für ein würdiges Gedenken
Und dieses Gedenken muss auch immer wieder verteidigt werden. Erst im Juli 2019 wurde eine Gedenkplatte für polnische Opfer des Massakers gewaltsam von der Wand gerissen und entwendet. Es spricht viel dafür, dass es sich bei dieser Tat nicht um irgendeine Form von Diebstahl oder Vandalismus handelt.
Beim Anblick der freien Stelle, an der die Gedenktafel bis vor kurzem hing, denke ich unvermittelt daran, dass nur ca. 50 Meter weiter, wo das Besucher- und Dokumentationszentrum gerade entsteht, heute auch fast eine freie Fläche hätte liegen können. Ende 2016 schien der Bau nicht mehr auf die volle politische Unterstützung in Sachsen-Anhalt zu stoßen. Zum Glück wurden dann doch wenige Monate später im Etat die erwarteten Mittel bereitgestellt.
Die Amicale Internationale KZ Neuengamme unterstrich damals in einem Brief, welche große Bedeutung die internationalen Verbände der Überlebenden des KZ Neuengamme und ihrer Nachkommen dem Informieren, Dokumentieren und Gedenken in der Gedenkstätte Feldscheune Isenschnibbe Gardelegen zumessen. So ist auch unser Besuch an diesem Ort ein klares Bekenntnis zu der Arbeit dieser Institution. Wir werden definitiv wiederkommen, spätestens zur Eröffnung des Besucher- und Dokumentationszentrums im nächsten Jahr. Wir danken Herrn Froese für seine kompetente, immer zugewandte und augenöffnende Begleitung.