„Was ist am 3. Mai 1945 hier in Neustadt passiert?“ Mit dieser Frage wendet sich Jens Westen zu Beginn der ersten Episode des Podcasts „Besser spät als nie – Erinnerungskultur in Neustadt in Holstein“ an Neustädter*innen. Zum Teil zögerlich kommt der Verweis auf die Cap-Arcona-Katastrophe. Auf die folgende Frage, ob die Passant*innen Neustadt mit dem Begriff „Stutthof“ in Verbindung bringen, werden die Antworten zunehmend zögerlicher und eine gewisse Unkenntnis kommt zu Tage.
Somit wird gleich zu Beginn des zweiteiligen Podcasts eines der größten Versäumnisse rund um das Gedenken in Neustadt offengelegt – einigen Neustädter*innen ist nicht bekannt, was sich vor ihrer Haustür im Schatten der Cap-Arcona-Katastrophe am 3. Mai 1945 abspielte. Bis zu 400 zum Großteil jüdische Häftlinge des KZ Stutthof wurden an diesem Tag am Strand von Neustadt ermordet.
Rund 2.000 Häftlinge kamen in der Nacht zum 3. Mai 1945 auf zwei Binnenschiffen in der Neustädter Bucht an. Dort sollten sie an Bord der Cap Arcona gehen. Dies wurde jedoch von der Besatzung der Cap Arcona abgelehnt. Stattdessen gingen diejenigen, die die Überfahrt überlebten, in Neustadt in den frühen Morgenstunden an Land und begaben sich auf den Todesmarsch vom Lotsenhaus zum Hafen in Neustadt. Am Strand wurden die KZ-Häftlinge von Zivilisten, Angehörigen der Kriegsmarine und des Neustädter Volkssturms zusammengetrieben und bis zu 400 von ihnen ermordet – in aller Öffentlichkeit, unter den Augen der Neustädter Bevölkerung. Bis heute wurde keiner der Täter verurteilt.
Der Podcast der Neustädter Journalist*innen Jens Westen und Christina Mänz nimmt sich der Frage an, warum vielen Neustädter*innen das Ausmaß der Geschehnisse rund um den 3. Mai 1945 nicht bekannt ist, und versucht, Hintergründe zu liefern, warum erst jetzt auch das Schicksal der Stutthof Häftlinge in den Fokus der Erinnerungskultur in Neustadt in Holstein rückt. Eine historische Aufarbeitung der Ereignisse ist hierbei nicht das Ziel, sondern vielmehr zu verstehen, warum über das Schicksal der Stutthof Häftlinge in Neustadt nicht ausreichend geredet wurde und das Massaker nur oberflächlich aufgearbeitet wurde.
Hierzu lassen die Journalist*innen in ihrem Podcast unterschiedliche Neustädter*innen und andere Personen zu Wort kommen. Unter ihnen ist unter anderem ihr ehemaliger Geschichtslehrer, den sie mit der Frage konfrontierten, warum die Verbrechen vom 3. Mai 1945 am Gymnasium in Neustadt so lange nicht auf dem Lehrplan standen. Auch Hans-Joachim Birkholz, der von 1972-1984 Bürgermeister der Stadt Neustadt in Holstein war und 2006 ein Buch veröffentlichte, das sich mit der Stadtgeschichte befasst, und Wilhelm Lange, Stadtarchivar und Leiter des Cap-Arcona-Museums, kommen in dem Podcast zu Wort.
Außerdem sprach Christina Mänz im Rahmen des Podcasts mit Manfred Goldberg, einem der noch wenigen lebenden Stutthof Häftlingen, die mit den Schiffen nach Neustadt kamen und schließlich von den Briten befreit wurden. In dem Interview schildert er seine persönlichen Eindrücke zu den Geschehnissen am 3. Mai 1945 in Neustadt und verweist auf die Bedeutung von Bildung und Aufklärung, um Antisemitismus zu bekämpfen. Als Schlusswort gibt er den Neustädter*innen und Zuhörer*innen des Podcasts folgende Botschaft mit auf den Weg: „Bitte denkt daran: Für den Triumph des Bösen braucht es nur das Schweigen der Guten.“
In dem Podcast wird viel auf die Bedeutung des Vor-Ort-Seins eingegangen. Inwiefern dies und die Gespräche mit anderen die Geschichte nahbarer und erlebbarer machen. Durch das Zusammentragen unterschiedlicher Perspektiven gelingt es Jens Westen und Christina Mänz in ihrem Podcast „Besser spät als nie“ eindrucksvoll den Zuhörer*innen die Geschichte Neustadts in Holstein zum Ende des Zweiten Weltkriegs näher zu bringen und die Versäumnisse in der Erinnerungskultur darzustellen. Ihnen geht es nicht darum, Täter*innen zu stellen, sondern ein Bewusstsein für die Frage zu schaffen, was man mit der eigenen Geschichte macht und wie man aus ihr lernt. Sie stellen fest: „Wir erinnern, um zu verändern. Wir erinnern für die Zukunft. […] Dieses Verbrechen verdient es, dass darüber gesprochen wird.“ Besser spät als nie.
Den Podcast „Besser spät als nie – Erinnerungskultur in Neustadt in Holstein“ finden Sie hier. Die erste Episode befasst sich vor allem mit den Geschehnissen am 3. Mai 1945, während die zweite Episode hauptsächlich auf das Gedenken heute in Neustadt eingeht.