Am 2. Mai 2024 lud die Arbeitsgruppe „Ort der Verbundenheit“ anlässlich des 79. Jahrestags der Befreiung der Häftlinge des KZ-Neuengamme wieder zu einer offenen Druckwerkstatt für Angehörige ehemaliger Häftlinge mit einer anschließenden öffentlichen Plakatpräsentation ein.
Dieser Einladung folgten fast 200 Angehörige und Interessierte. Aus den Niederlanden war eigens eine ganze Gruppe von Angehörigen mit einem Reisebus gekommen, von denen viele selbst ein Plakat über ein verfolgtes Familienmitglied gestaltet hatten. Auch aus der Ukraine waren wieder Angehörige angereist. Aus Polen und Deutschland waren ebenfalls Angehörige vertreten.
Seit 2020 würdigen Familienmitglieder am Ort der Verbundenheit ehemalige Häftlinge des KZ Neuengamme, und machen dort mit selbstgestalteten Plakaten deren Verfolgungs- und Lebensgeschichten sichtbar. Die Plakatmotive stehen vor Ort als Druckplatten zur Verfügung und können in der anliegenden Druckwerkstatt im Plattenhaus von Hand gedruckt werden. Das selbst gestaltete Plakat das erste Mal selbst zu drucken, es aus der Druckerpresse zu nehmen und das frische gedruckte Plakat mit noch feuchter Farbe in den Händen zu halten – für viele Angehörige ist das ein großer Moment.
Aufgrund des großen Andrangs in der Druckwerkstatt gab es in diesem Jahr zwischen Plattenhaus und Klinkerwerk zwei Zelte. Dort konnte vor und nach dem Drucken Kaffee getrunken und Kuchen gegessen werden. Viele Gäste trugen Zeltbänke in den Sonnenschein und nutzten sie mit Blick auf des Archivregal vor dem Plattenhaus für Austausch und Gespräche.
Das Regal, in dem die Druckplatten vor dem Plattenhaus im Außengelände einsehbar sind, war extra noch einmal erweitert worden. 25 neue Druckplatten kamen in diesem Jahr dazu. Inzwischen gibt es schon 144 von Angehörigen aus vielen Ländern gestaltete Druckplatten, die an ehemalige Häftlinge erinnern.
Bei der im Anschluss an die offene Druckwerkstatt stattfindenden öffentlichen Plakatpräsentation im Klinkerwerk präsentierten die über 50 anwesenden Angehörigen auf eindrucksvolle Weise die von ihnen gestalteten Plakatmotive. Barbara Hartje, Vorsitzende des Freundeskreises der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, führte durch die Veranstaltung und hob die Bedeutung eines Gedenkortes wie den Ort der Verbundenheit hervor, an dem auch die Erfahrungen der nachkommenden Generationen Sichtbarkeit erlangen: „Jedes Plakat erzählt auf ganz individuelle Art die Leidensgeschichte eines Inhaftierten im KZ Neuengamme, sei es, dass er an den unmenschlichen Bedingungen im Lager gestorben ist oder diese überlebt hat. Und die Plakate erzählen teilweise auch davon, welche Auswirkungen diese Schicksale auf die Kinder und Enkel, also die folgenden Generationen in den Familien, gehabt haben.“
Für die anwesenden Angehörigen sprachen stellvertretend Sandra Polom und Henk Vlieger und stellten die von ihnen in Gedenken an ihre Familienmitglieder gestalteten Plakatmotive vor. Musikalisch begleitet wurde die Veranstaltung von Hans-Jürgen Buhl auf dem Saxofon.
Sandra Polom gestaltete für ihre Großmutter Genowefa Banasiak ein Plakat für den Ort der Verbundenheit. Dies ist das erste Plakat für einen weiblichen Häftling aus einem der Frauenaußenlagern des KZ Neuengamme, das für den Ort der Verbundenheit entworfen wurde. Gleichzeitig ist es auch das erste Plakat für einen Häftling aus Polen. Sandra Polom erzählte von der Verfolgungsgeschichte ihrer Großeltern, die beide aus Polen in Konzentrationslager nach Deutschland verschleppt und nach Kriegsende nach Schweden befreit wurden. Lange Zeit wusste sie nur wenig über die Verfolgungsgeschichte ihrer Großeltern: „Als ich aufgewachsen bin, wusste ich natürlich, dass meine Großeltern im KZ waren, aber ich wusste nichts Genaues. Mein Großvater starb, als ich zehn Jahre alt war, meine Großmutter wurde zwar 90 Jahre alt, konnte aber im hohen Alter nicht mehr darüber sprechen. Im Jahr 2017 sollte sich alles für mich verändern: meine Mutter erhielt einen Brief vom ehemaligen Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes (ITS) in Deutschland, in dem stand, dass man uns den Schmuck meiner Großmutter zurückgeben will, der ihr bei der Deportation ins KZ vor so vielen Jahren abgenommen wurde, ihre sogenannten Effekten. Nachdem sich der erste Schock über diese Nachricht gelegt hatte und wir den Schmuck erhalten hatten, fing ich an wie besessen zu recherchieren – ich habe immer mehr herausgefunden und konnte einfach nicht aufhören. Stück für Stück konnte ich die Verfolgungsgeschichte meiner Großeltern nahezu vollständig rekonstruieren.“ Sandra Polom sieht es als ihre Aufgabe an, an das Geschehen zu erinnern und speziell immer auch über Einzelschicksale zu berichten und Namen zu nennen, „damit sie nicht nur Teil einer Statistik sind“. „Es ist nicht einfach, diese Geschichte mit sich zu tragen, aber es hilft, darüber zu sprechen und sich mit anderen auszutauschen“, fasste Sandra Polom ihre Rolle in ihrer Rede zusammen und dankte allen, die sich der Gedenkarbeit widmen.
Henk Vlieger berichtete über die Verfolgungsgeschichte seiner vier Onkel, die aus den Niederlanden ins KZ Neuengamme verschleppt wurden. Keiner von ihnen überlebte die Haft. In seiner Rede stellte er eindrucksvoll seine Verbindung zu dem Ort und auch seine Motivation, an diesen zurückzukehren, dar: „Für mich ist das KZ Neuengamme keine abstrakte Erinnerung, sondern ein Ort, der tief in meiner Familiengeschichte verwurzelt ist. Vier meiner Onkel, unschuldige Männer, wurden zwischen Februar und April 1945 aus dem Leben gerissen und im KZ Neuengamme sowie in den Außenlagern Wöbbelin und Sandbostel ermordet. Es ist hier, inmitten dieser belasteten Atmosphäre, dass ich meine persönliche Verbindung zu dieser Geschichte spüre. Ich fühle mich verpflichtet, nicht nur meiner Onkel zu gedenken, sondern auch das unermessliche Leid zu bezeugen, das sie gemeinsam mit unzähligen anderen erlitten haben. Ihre Namen, ihre Gesichter sind die lebendige Erinnerung, die mich hierherbringt, an diesen Ort des Schmerzes und des Verlusts.“
Höhepunkt der Veranstaltung war die gemeinschaftliche Nennung der Namen der Verfolgten. Mehr als 30 Angehörige stellten sich mit „ihrer“ Druckplatte auf und nannten nacheinander den Namen des ehemaligen KZ-Häftlings, der auf ihrem Plakat gewürdigt wird.
Die Arbeitsgemeinschaft „Ort der Verbundenheit“ dankt allen Angehörigen, Involvierten und Interessierten, die die Veranstaltungen ermöglicht und zu ihrem Erfolg beigetragen haben. Die Veranstaltungen haben erneut gezeigt, welche Bedeutung einem Gedenkort wie dem Ort der Verbundenheit in der Erinnerungskultur zukommt, gerade weil er von dem Engagement von Angehörigen geprägt wird. So fasste Henk Vlieger in seiner Rede zusammen: „Der Ort der Verbundenheit zeigt, dass Gedenken nicht nur eine individuelle Handlung ist, sondern auch eine gemeinschaftliche, bei der wir gemeinsam die Verantwortung für das Bewahren der Geschichte tragen. Lassen Sie uns also, während wir hier zusammenkommen, nicht nur dem Verlust gedenken, sondern auch der Kraft der Erinnerung und unserer Verbundenheit.“
Zum Abschluss wurde gemeinsam plakatiert. Alle neuen Poster sind nun an der Plakatwand am Plattenhaus zu sehen.
Die Posterpräsentation wurde von einem Filmteam des NDR begleitet. Den Beitrag finden Sie hier.
Weitere Bilder der Veranstaltung finden Sie auf der Facebook-Seite Posters herinneringsplek Neuengamme.
Die Reden der Veranstaltung finden Sie hier.