Am 5. und 6. Juni 2024 fand im Max-Mannheimer-Haus in Dachau das Symposium „Erinnern heute – Zeugnis der Nachkommen“ statt, welches sich mit der Rolle und den Aufgaben der Nachkomm:innen von NS-Verfolgten vor dem Hintergrund der aktuellen gesellschaftlichen Debatte über die Zukunft der Erinnerung befasste. Heidi Delbeck, Tochter des kommunistischen Widerstandskämpfers Karl Delbeck und Mitorganisatorin des Symposiums, führte thematisch in das Thema mit untenstehender Rede ein.
Als Tochter eines von der NS-Justiz verfolgten und verurteilten Vaters engagiere ich mich in der Erinnerungsarbeit zum ehemaligen NS-Strafgefängnis und zur NS-Hinrichtungsstätte München-Stadelheim.
Eine große Kiste habe ich geerbt mit Datierung ab 1920 – Widerstand gegen den Kapp-Putsch.
Meine eigene Kiste beginnt 1947 und aus dieser lese ich zwei Zeugnisse meiner Nachkommenschaft, meiner Prägung, die sich in dem dicken Ordner „Wiedergutmachung“ befinden, vor. Am 6. Februar 1953, da war ich 5 Jahre und bereits vertraut mit den Demütigungen, die diese Briefe in unsere Familie brachten, schreibt die Entschädigungskammer des Freistaats Bayern:
„Sie werden ersucht mitzuteilen, ob Sie Zeugen (und deren ladungsfähige Anschrift) benennen können, die über Ihre frühere politische Tätigkeit und die Gründe, warum Sie immer wieder inhaftiert wurden, Aussagen machen können. Frist hierzu: 3. März 1953“
Es war bekannt, dass die Gestapo Gelsenkirchen alle Dokumente vernichtet hatte. Die Richter schwiegen.
Als ich 1972 nach dem Tod meines Vater mit meiner Mutter den Antrag auf Hinterbliebenenrente stellte, bekamen wir nach Klageprozedur 1974 in einem 14-seitigen Gutachten, das von dem vielgeehrten Prof. Dr. Blaha und einem Dr. C. Clauberg aus der Familie des berüchtigten Auschwitz Gynäkologen gleichen Namens unterzeichnet wurde, u.a. mitgeteilt, dass die Familiengeschichte unerheblich sei. Weiter heißt es, sei bestätigt, dass mein Vater im April 1945 in Haft sich wegen geschwollener Füße krankgemeldet habe und, Zitat, „die Behandlung alsbald zum gewünschten Erfolg geführt (habe)“.
Mein Vater war zu diesem Zeitpunkt acht Monate in der Todeszelle in München-Stadelheim und von schwerer Folter und langen Haftzeiten gezeichnet. Ihm wurden größere Holzschuhe verpasst, bevor er zusammen mit der Guillotine auf einem Lastwagen in das Gefängnis Straubing transportiert wurde.
Wir, die Zweite Generation, sind die Zeugen des menschenverachtenden, täterbestimmten Umgangs mit unseren überlebenden Familienmitgliedern und mit den Familien der Ermordeten. Die Zeitzeugenschaft der Überlebenden gab es nicht. Nur wenige konnten überhaupt und dann erst sehr spät reden.
Und wie viele von uns konnte auch ich lange nicht sprechen. Ich erinnere mich an Marie-Luise Schultze-Jahn, die zusammen mit Hans Leipelt, der in Stadelheim hingerichtet wurde, verhaftet wurde. Sie sagte mir: „Ja, Sie können auch nicht sprechen, aber schauen Sie, wie lange ich nicht sprechen konnte.“
Unsere Gruppe der Nachkommen NS-Verfolgter-Regionalgruppe Süd gibt es seit sieben Jahren. Sie ist offen für Nachkommen aller Verfolgungsschicksale. Wir haben uns gesucht und gefunden und uns zusammen mit Thorsten Fehlberg in Nürnberg aus der Taufe gehoben.
Auslöser für meine Suche war die Teilnahme an der Konferenz ‚Zweite Generation‘, die 2015 in Berlin stattfand und zu der Nachkommen aller Verfolgungsgruppen eingeladen wurden. Für mich war es das erste Mal, als Zweite Generation angesprochen und wahrgenommen zu werden und meine Erfahrungen, Ängste, das Anderssein mit anderen zu teilen. Ganz entscheidend zu wissen ist, dass sich die KZ-Gedenkstätte Neuengamme unter der Leitung von Oliver von Wrochem schon längst den Folgegenerationen widmet und das Young Commitee der Amicale Internationale KZ Neuengamme den Reflections Blog europaweit betreibt. Im Bundesverband Information und Beratung, der die Konferenz ausgerichtet hatte, wurde vor Jahren eine Abteilung Nachkommen eingerichtet.
Wir als Nachkommen NS-Verfolgter-Regionalgruppe Süd treffen uns zweimal im Jahr ganztägig in geschützter Atmosphäre zum persönlichen Austausch, unterstützen uns gegenseitig in unserer Erinnerungsarbeit und in unserer Recherche zu unseren verfolgten, ermordeten Familienangehörigen, planen gemeinsame Initiativen und sind bundesweit vernetzt. Trotz unserer sehr unterschiedlichen Biografien verbindet uns ein gemeinsames Erbe und die Frage, wie wir es bewältigen. Gut, dass sich uns inzwischen jüngere Generationen anschließen.
Als wir 2021 feststellten, dass das NS-Dokumentationszentrum in München ein Symposium zum Thema ‚Ende der Zeitzeugenschaft‘ und zur ‚Zukunft der Erinnerung‘ ohne Thematisierung der Rolle der Nachkommen NS-Verfolgter ausrichtete, haben wir uns entschlossen, ein Nachkommensymposium zu planen. Nicht die ‚Zukunft der Erinnerung‘, sondern das ‚Erinnern Heute‘ mit unserer Zeugenschaft sollte das Thema sein. Wir sind heute gefordert, mit unseren Erfahrungen die Nachkriegsgeschichte von 1945 bis heute zu beleuchten. Das nazistische, menschenverachtende Gedankengut war für uns immer präsent. Das „Nie wieder ist jetzt“ hat uns bestätigt.
Die Realität der Durchsetzung hat uns viel Hartnäckigkeit und Nervenstärke abverlangt. Die Idee, unser Symposium 2023 in der ehemaligen Hauptstadt der Bewegung, im NS-Dokumentationszentrum München zu veranstalten, erfuhr Ablehnung auf höchster Ebene.
Wir danken der Stiftung Bayerische Gedenkstätten, dass sie uns so unterstützend zur Seite stand und die Gespräche auf Augenhöhe erfolgten. Und unser Dank gilt ebenfalls der VVN-BdA Bayern, die uns ‚Vereinslosen‘ mit ihrer Unterstützung die Durchführung des Symposiums ermöglicht hat.