Entstehung des Vereins
Um eine Anlaufstelle für alle Opfer des Nationalsozialismus, ohne Berücksichtigung des Verfolgungshintergrundes anzubieten, gründeten engagierte Personen eine Informations- und Beratungsstelle für NS-Verfolgte aus der 1992 der Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte Bundesverband e.V. (Bundesverband) hervorging. Einige der ersten Vereine und Verbände die dem Bundesverband beitraten waren die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes e.V., die Bundesvereinigung der Opfer der NS-Militärjustiz e.V., Pax Christi, die Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e.V. und Aktion Sühnezeichen Friedensdienste e.V. Wegen seines großen Engagements für die ehemaligen ZwangsarbeiterInnen und seinen Kenntnisse auf dem Gebiet des deutschen Entschädigungsrechts erhielt der Bundesverband einen Sitz im Kuratorium in der Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ).
Als das Land Nordrhein-Westfalen 1993 einen Härtefonds einrichtete, waren die Mitarbeiter/innen des Bundesverbands an der Erstellung von Entwürfen der Richtlinien des Härtefonds und Änderungsvorschlägen beteiligt. Seit 1996 unterhält der Verein die „Transferstelle zur Verbesserung der Information und Beratung für Verfolgte des Nationalsozialismus in Nordrhein-Westfalen“, die seitdem vom Land gefördert wird. Diese Zuwendung ermöglicht die Gewährung der Beratung und Information für NS-Verfolgte und der Nachkommen (im Text auch Folgegenerationen genannt) aus Nordrhein-Westfalen, womit vor allem die historische Recherche und die Rechtsberatung im Bundesland abgedeckt werden. Für die bundesweite und internationale Beratung ist der Verein auf Spenden angewiesen. Der Bundesverband hat in den 25 Jahren seines Bestehens zahlreichen Überlebenden zu Entschädigungszahlungen verholfen und sich für die Anerkennung unterschiedlicher Verfolgtengruppen engagiert.
Arbeitsfelder und Projekte
Zusätzlich zu den Aufgaben der Transferstelle wurden und werden unterschiedliche Projekte durchgeführt, die aus Projektmitteln finanziert werden müssen. Für die Opfer der NS-Zwangsarbeit beispielsweise entwickelte der Bundesverband zusammen mit dem Bundesarchiv und dem Internationalen Suchdienst des Roten Kreuzes das Projekt „Nachweisbeschaffung”. Dieses Projekt verschaffte zwischen 2001 und 2003 mehr als 43.000 ZwangsarbeiterInnen Nachweise über die geleistete Zwangsarbeit.
Das Projekt „Begegnungscafé“ ist als Treffpunkt und Begegnungsgruppe für Menschen, die Verfolgungsmaßnahmen der Nationalsozialisten überlebt haben gedacht. Es wird in Köln, Düsseldorf und Recklinghausen umgesetzt. Das „Warme Zuhause“ folgt einem ähnlichen Konzept, allerdings finden die Zusammenkünfte in privaten Wohnungen von Überlebenden statt. Angehörige der Überlebenden unterstützen die Vorbereitung und Nachbereitung nach den Veranstaltungen, in einigen Fällen stellen sie auch ihrer Wohnungen für die Treffen zur Verfügung.
Der Bundesverband führt auch Projekte zur politischen Bildung durch. Regelmäßig sprechen ZeitzeugInnen öffentlich bei den Erzählcafés. Zu diesen Verstaltungen mit ZeitzeugInnen werden Interessierte, PressevertreterInnnen und besonders Schulklassen eingeladen. Das Zeitzeugentheater in Kooperation mit JDC Israel Eshel war ein besonderes Projekt, in dem SchülerInnen mit Überlebende gemeinsam deren Verfolgungsgeschichten auf der Bühne darstellten.
Weitere ZeitzeugenInnenbegegungen werden beispielweise durch Film- oder Lesereihen ermöglicht.
Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus
Da der Bundesverband es auch als seine Aufgabe betrachtet, sich für die Nachkommen der Überlebenden und ihre Bedürfnisse einzusetzen, war die Anerkennung dieses Themenfeldes durch das Land Nordrhein-Westfalen im Jahr 2012 ein großer Erfolg. Der Bundesverband darf laut Haushaltstitel „Beratungsangebote für NS-Verfolgte und ihre Nachkommen“ anbieten.
Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus sind als MitarbeiterInnen, KooperationspartnerInnen und Ehrenamtliche an der Arbeit des Bundesverbandes beteiligt und unverzichtbar. Kinder und Enkel von Überlebenden treten auch an den Verein heran, um juristische Beratung zu Entschädigungsfragen zu erhalten. Außerdem werden Rechercheanfragen beantwortet, die Auskunft über die verfolgten Verwandten geben.
Anfangs traten viele Nachkommen im „Auftrag“ ihrer Eltern mit Fragen zur Entschädigung an den Verein heran. In Gesprächen stellte sich häufig heraus, dass nicht der finanzielle Wert der Entschädigung im Vordergrund stand. Oft ging es um die Anerkennung des speziellen Leidens der Eltern. Die Nachkommen der Überlebenden haben einen großen Anteil an der Aufarbeitung des Nationalsozialismus und an der Arbeit für die Generation der Überlebenden geleistet. Sie sind mit traumatisierten Eltern aufgewachsen und daher zum Teil von transgenerationaler Weitergabe betroffen (ausführlich dazu bspw. Grünberg/ Straub 2001, Guski-Leinwand 2011, Kellermann 2013).
Psychische Belastung
Die Arbeit des Bundesverbandes mit Angehörigen der Folgegenerationen hat gezeigt, dass viele von ihnen die eigene Geschichte lange zurückgestellt haben. Dies geschah teilweise aus Rücksicht auf die Eltern, und kann psychische Probleme mit sich bringen. Die Verfolgungszeit der Eltern wirkte sich häufig auf die Erziehung aus (vgl. dazu bspw. Rauwald 2013, Spiegel 2012). Das gesellschaftliche Klima besonders in Deutschland, die Verleugnung und das Verschweigen durch die Mehrheitsgesellschaft bis hin zur stolzen Bekenntnis von einigen zur Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen, wirkte sich ebenfalls auf die Familien mit Verfolgungshintergrund aus.
Demütigende Erfahrungen konnten die Überlebenden den eigenen Kindern nur schwer oder gar nicht erzählen, weil man sie nicht belasten wollten. Traumabedingte Alpträume, Angstattacken oder die Abwesenheit verschollenen oder ermordeten Angehörigen blieben ihren Kindern allerdings nicht verborgen.
Häufig fehlt die mehrheitsgesellschaftliche Anerkennung dafür, dass Nachkommen der NS-Verfolgten unter besonderen (auch schwierigen) Bedingungen herangewachsen sind. Psychologische Fachliteratur zu diesem Thema gibt es allerdings sehr viel. Für Angehörige der Folgegenerationen, die unter der Weitergabe von Traumata leiden, sind sowohl Anerkennung als auch angemessene Behandlungsmethoden zu fordern. Der Bundesverband vermittelt PsychotherapeutInnen, die sich mit transgenerationaler Weitergabe auskennen. Über ein Onlineberatungsportal (noch in Arbeit) können sich Betroffene auch anonym an die MitarbeiterInnen des Bundesverbands wenden.
Bündelung von Interessen und öffentliche Aufmerksamkeit
Um weitere Kenntnisse über das Thema zur erlangen und die Belange von Nachkommen verschiedener Verfolgtengruppen zu bündeln, veranstaltete der Bundesverband in den Jahren 2009 und 2011 Fachtagungen im kleineren ExpertInnenkreis. Aus diesen Tagungen ging u. a. die Idee hervor, das Thema einer breiten Öffentlichkeit vorzustellen und weitere Betroffene, Interessierte und ExpertInnen zusammenzubringen. Aus diesem Grund führte der Bundesverband 2015 die Konferenz „Zweite Generation“ durch.
Die Bestrebungen, das Thema öffentlicher und in größerem Rahmen darzustellen sind nicht ganz neu und auch keine Erfindung des Bundesverbands. Im Jahr 1997 wurde beispielweise im Auftrag des „Instituts für vergleichende Geschichtswissenschaften“ zusammen mit dem „Second Generation Trust“ eine Konferenz mit dem Titel „Die Gegenwart der Geschichte des Holocaust. Intergenerationellen Tradierung und Kommunikation der Nachkommen“ durchgeführt – allerdings mit einem anderen Fokus (Staffa/Klinger 1997). Auch vor dieser Konferenz gab es Initiativen in zahlreichen Ländern. Das Thema trat erstmals auf, als die Erstgeborenen der Überlebenden in ihren 30ern waren (Krokowski 2001:154). Die Konferenz „Zweite Generation“ sollte Entwicklungen und Forschungsansätze darstellen und vor allem Nachkommen von unterschiedlichen Verfolgtengruppen zu intensiverem Austausch ermutigen. Die Ergebnisse der Konferenz wurden in einem Sammelband veröffentlicht. (siehe dazu Fehlberg/Rebentisch/Wolf 2016)
Um mehr Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erzielen, wurden die Ergebnisse der Konferenz „Zweite Generation“ in der Kölner Zentralbibliothek vorgestellt, wobei das Thema Biografie im Vordergrund stand.
Vor der Konferenz wurde eine Lesereihe zum Thema Folgegenerationen durchgeführt. Ziel dieser Veranstaltungsreihe war
Ein Hauptanliegen vieler Teilnehmender der Konferenz „Zweite Generation“ war die intensivere Vernetzung untereinander. Daher versucht der Bundesverband seit 2015 aktiv Nachkommen in verschiedenen Regionen Deutschlands zu vernetzen und bietet auch in Köln regelmäßig Veranstaltungen an.
Zeitzeugenschaft
Der Bundesverband vertritt die Ansicht, dass Nachkommen von Überlebenden als ZeitzeungInnen gehört werden sollten. Es gibt bereits Sachbücher, Romane und Filme mit autobiografischem Inhalt. Der Bundesverband setzt sich dafür ein, dass diese Zeitzeugnisse mehr Aufmerksamkeit erfahren.
In Deutschland lebende Angehörige der Folgegenerationen können über ihre Zeit als SchülerInnen berichten, den Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Schule und ihre Erfahrungen mit dem gesellschaftlichen Wandel sowie Entwicklungen in der jüngsten Vergangenheit. ZeitzeugInnenberichte besonders von älteren Angehörigen der Folgegenerationen können einen speziellen Einblick in die Entwicklung der deutschen Demokratie geben und beleuchten, welche Schwierigkeiten es bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit gab. Zum Teil können sie auch über ihr Engagement für die Anerkennung der Eltern berichten.
Um Zeitzeugnisse von Nachkommen der Überlebenden zu bewahren, hat der Bundesverband einen eigenen Bereich auf seiner Webseite eingerichtet. Hier werden biografische Zeugnisse von Angehörigen der Folgegenerationen in schriftlicher Form einer breiteren Öffentlichkeit vorgestellt.
Ein neues Projekt zielt auf die Vernetzung und den fachlichen Austausch von Fachleuten aus Forschung und Praxis. Zu den moderierten Arbeitsgruppen sind ExpertInnen eingeladen sich zu den Themen „Psychosoziale Fragen“ und „Historische-Politische Bildung“ im Kontext der Arbeit von und mit Nachkommen von NS-Verfolgten auszutauschen – Möglichkeiten einer Zusammenarbeit zu diskutieren und gemeinsam neue Impulse für Forschung und gesellschaftlichen Diskurs zu setzen. Unter Anderem kooperiert der Bundesverband bei diesem Projekt mit der KZ-Gedenkstätte Neuengamme.
Der Bundesverband setzt sich insgesamt für die Anerkennung der spezifischen Situation der Angehörigen der Folgegenerationen ein. Dabei geht es um soziale Erfordernisse, psychologische Bedarfe und die Würdigung der besonderen Leistungen für die Überlenden sowie die Fortsetzung der historischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus.
Quellen
Fehlberg, Thorsten/ Rebentisch, Jost/ Wolf, Anke (2016): Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus. Herausforderungen und Perspektiven. Frankfurt: Mabuse.
Grünberg, Kurt; Straub, Jürgen (2001): Unverlierbare Zeit: Psychosoziale Spätfolgen des Nationalsozialismus bei Nachkommen von Opfern und Tätern.
Guski-Leinwand, S. (2011): Die unversorgten Generationen – Traumatisierungen zweiter Ordnung bei Nachkommen traumatisierter (Groß-)Eltern der NS-Generation. In: Bundesverband Information & Beratung für NS-Verfolgte (Hrsg.): Fachtagung zum Thema „Zweite Generation“ am 1. März 2011 in Köln, S. 16–21.
Kellermann, Natan P.F. (2013). Epigenetic transmission of Holocaust Trauma: Can nightmares be inherited? Israel Journal of Psychiatry & Related Sciences, 50(1), 33-39.
Krokowski, Heike (2001): Die Last der Vergangenheit: Auswirkungen nationalsozialistischer Verfolgung auf deutsche Sinti. Campus.
Rauwald, Marianne (2013):Vererbte Wunden: Transgenerationale Weitergabe traumatischer Erfahrungen. Beltz.
Spiegel, M.V. (2012): Black Boxes und Doublebinds. Geheimhaltung und Weitergabe von Erinnerung in Holocaust-Familien. In: Im Fokus. 3/2012
Staffa, Christian, Klinger, Katherine (1998): Die Gegenwart der Geschichte des Holocaust – Intergenerationelle Tradierungen und Kommunikation der Nachkommen.