Unter den deutschen Sinti:ze und Rom:nja gibt es kaum eine Familie, die nicht von der Verfolgung durch die Nationalsozialist:innen betroffen war. Mindestens drei Viertel fielen dem Völkermord zum Opfer, so dass nur wenige tausend überlebten, von denen die Mehrheit wieder an ihre alten Wohnorte zurückkehrte.[1]

© Sinti Union Schleswig-Holstein e.V.
Marlo Thormann, geboren 1960, und Kelly Laubinger, geboren 1989, sind Nachfahr:innen von NS-Verfolgten und leben in Neumünster, einer mittelgroßen Stadt in Schleswig-Holstein. Ihr Leben war und ist bis heute von den Gewalterfahrungen der Eltern und Großeltern sowie der Verwandtschaft während des Nationalsozialismus geprägt. Diese wurden, ebenso wie weitere Sinti:ze und Rom:nja, im Mai 1940 von Neumünster in das polnische Lager Belzec deportiert. Dort wurden drei Angehörige der Familie Laubinger ermordet, eine weitere Verwandte in Auschwitz, der Angehörige Wilhelm Thormann in Dachau.[2] Diejenigen, die die Haft überlebt hatten, kehrten häufig wieder nach Neumünster zurück, darunter auch der 1928 geborene Großvater von Kelly Laubinger, Otto Laubinger.[3]
Aufgrund von Kontinuitäten polizeilicher Verfolgung und der Stigmatisierung durch die Mehrheitsgesellschaft lebte der überwiegende Teil der Überlebenden und ihre Familien bis weit in die 1970er und 1980er Jahre hinein in sozialer Isolation.[4] So wurde die Erinnerung an den Völkermord zwar im privaten Rahmen wachgehalten, eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung jedoch verhindert.[5]
Marlo Thormann wurde bereits im Kindesalter täglich mit den Leiden seiner Nächsten konfrontiert:
„Ich habe viel mitbekommen. Sie haben viel erzählt, und wenn es zu Ende war, haben die Leute angefangen zu weinen, das habe ich natürlich immer mitbekommen. Ich habe erlebt und gesehen, wie sich die Überlebenden des Völkermordes nach 1945 gequält haben, wie manche Frauen keine Kinder kriegen konnten, weil die Nazis Experimente gemacht haben. Ich bin damit groß geworden. Die erste Generation wurde nie gefragt von Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft. Die Erinnerung hat sich immer auch aus Angst im privaten Kreis, in der Familie gehalten und tradiert, aber eine Öffnung nach außen gab es nicht, weil man auch möglichst nicht auffallen wollte.“
Für die Überlebenden stellten die Bemühungen und Kämpfe um finanzielle Entschädigung eine besonders schmerzhafte Erfahrung dar. Diese fielen äußerst gering aus oder wurden vollständig verwehrt. Die fehlende staatliche Anerkennung des Völkermordes verhinderte einen Neuanfang für Sinti:ze und Rom:nja nach 1945.[6]
Dies führte auch dazu, dass die Kinder und Enkel:innen der Überlebenden oder Verwandte Hilfe leisten mussten und in die zermürbenden Vorgänge involviert waren. So erinnert sich Marlo Thormann an seine Kindheit und Jugend: „Ich kannte die Menschen noch, wie sie Anträge geschrieben haben, um ein bisschen Geld zu bekommen, eine kleine Wiedergutmachung oder kleine Rente, was in den ersten Jahrzehnten immer abgelehnt wurde. Es war äußerst schwer, eine Entschädigung zu bekommen.“
Kelly Laubinger weist der Erziehung, aber auch den unmittelbar erzählten Geschichten der Großeltern entscheidende Bedeutung für ihre eigene Entwicklung zu:
„Es war schon immer in den vorherigen Generationen unserer Familie, also zum Beispiel bei meinem Urgroßvater, dass dann auch wir in unserer Kindheit so erzogen wurden: Werdet bloß nicht Klassensprecherin oder Torschützenkönigin, fallt nicht auf, bewerbt euch nicht in die Politik. […] Ich bin einfach so aufgewachsen, dass immer was erzählt wurde über die Zeit. Meine Oma hat auch immer erzählt von dem und dem, die im Lager ermordet worden sind. Wir haben einen sehr starken Familienverbund. Ich kann nicht sagen, ich wurde nur von meinen Eltern erzogen, nein, ich war auch tagtäglich bei meinen Großeltern.“
Die Erlebnisse von Marlo Thormann und Kelly Laubinger stehen paradigmatisch für tausende andere Familien deutscher Sinti:ze und Rom:nja. Erst die Selbstorganisierung der Minderheit, welche die staatliche Anerkennung des Völkermordes durch Helmut Schmidt 1982 erwirken konnte, die Gründung von Vereinen und Verbänden sowie die Unterstützung von engagierten Personen aus der Zivilgesellschaft insbesondere seit den 1990er Jahren setzte durch zahlreiche lokale und regionale Initiativen Bewegungen des Gedenkens in der Bundesrepublik in Gang.[7] Die Aufarbeitung hält bis heute dezentral an, noch immer werden einzelne Schicksale des Völkermordes erforscht, um ihre öffentliche Repräsentanz durch Gedenkorte wird weiterhin gerungen.[8]
In Neumünster ist bis heute das Wissen der Mehrheitsgesellschaft über Sinti:ze und Rom:nja und den an ihnen verübten NS-Verbrechen gering und von Stereotypen geprägt, sagt Kelly Laubinger: „Meine Oma hat immer gesagt: Als die ersten sogenannten Gastarbeiter:innen kamen, haben sie sich gefreut, weil sie nicht mehr die einzigen Menschen mit dunkler Haut in der Stadt waren. Sie sind dann nicht mehr aufgefallen in Neumünster. Die Leute wissen überhaupt gar nichts über Sinti und Roma. Nur die Stereotype aus dem Fernsehen, dass sie bunte Sachen tragen, Musik machen und am Lagerfeuer tanzen. Das hat uns immer wieder erschrocken.“

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Erst im Jahr 2013 wurde die Bürgerschaft Neumünsters durch ein Interview des Historikers Ingo Schumann mit Otto Laubinger im Freien Radio Neumünster auf das Schicksal der Sinti:ze und Rom:nja während des Nationalsozialismus aufmerksam gemacht. Acht Jahre später, am 15. Mai 2021, wurde in Neumünster neben der ehemaligen Sammelstelle „Haart 38“ ein Gedenkort errichtet, der die 42 Deportierten durch die Nennung ihrer Namen in der Inschrift in das öffentliche Geschichtsbewusstsein der Stadtgesellschaft rückte. Die zivilgesellschaftliche Initiative „Runder Tisch für Toleranz und Demokratie Neumünster e.V.“, der Überlebende Otto Laubinger, seine Nachfahr:innen und der Landesverband Deutscher Sinti und Roma Schleswig-Holstein e.V. hatten eine gesellschaftliche Anerkennung erstritten, auf die die Neumünsteraner Familien Jahrzehnte hatten warten müssen.[9]
Erste Anträge zur Umsetzung des Gedenkortes in den Jahren 2017 und 2018 waren vom Stadtrat zunächst gänzlich unbeantwortet geblieben.[10] Erst auf stärkeren Druck des Bündnisses hatte sich der Stadtrat schließlich mit dem Anliegen beschäftigt, in den Debatten der Versammlung diskutierten jedoch ausschließlich Vertreter:innen der Parteien aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft. Die direkt betroffenen Angehörigen waren nicht dazu eingeladen worden, ihre Sicht darzulegen. Auch in den Entscheidungsprozess bezüglich der ästhetischen Gestaltung und der Wahl des Standortes wurden die Nachfahr:innen der Deportierten kaum einbezogen.[11] Selbst bei der Enthüllung des Gedenkortes erhielt Kelly Laubinger nur auf Eigeninitiative und mit der Bitte, möglichst kurz zu sprechen, die Möglichkeit, vor den anwesenden Bürger:innen Neumünsters aufzutreten.[12] Weil FDP, NPD und das Bündnis für Bürger (BfB) den Gedenkort grundsätzlich ablehnten, verzögerte sich der positive Stadtratsbeschluss zur Errichtung um mehrere Monate.[13] Dass ihr Großvater Otto Laubinger in der Zwischenzeit verstorben war, geht Kelly Laubinger besonders nahe: „Er hat für das Mahnmal in Neumünster hier gekämpft. Er ist auch an die Öffentlichkeit gegangen. Er hat jedem seine Geschichte erzählt, der sie hören wollte.“

© Kelly Laubinger
Für Kelly Laubinger und Marlo Thormann war die letztlich erfolgreiche Errichtung des Mahnmals Türöffner und Ausgangspunkt für weitere Vermittlungsarbeit über den Völkermord als ein Mittel zur Bekämpfung sozialer Marginalisierung. Kelly Laubinger gründete gemeinsam mit ihrem Vater die Sinti Union Schleswig-Holstein e.V. unter der Zielsetzung, Aufklärungsarbeit zu leisten und andere Menschen aus den Communities zu empowern. Dies geschieht durch Vorträge in Bildungseinrichtungen und vor politischen Parteien wie der FDP, Interviews für Zeitungen oder Podcasts, Präsenz auf Social Media Kanälen, Workshops und Gespräche mit Politiker:innen auf Lokal- und Landesebene.
Kelly Laubinger: „Ich werde natürlich auch oft gefragt: Wie kannst du das, da so viel Arbeit reinzustecken, woher holst du dir die Kraft? Und ich antworte dann, dass es die Familie ist, die hinter mir steht, aber auch andere Menschen aus der Community. Ich denke, für die Zukunft ist unsere Arbeit wichtig und wir hoffen, dass sich auch noch mehr Sinti und Roma in Deutschland nach außen öffnen. Denn das, was geschehen ist, das konnte nur geschehen, weil die Menschen nichts über die Minderheit wussten. Aufklärung ist auch für uns eine Sicherheit.“
Anhaltender Vandalismus am Gedenkort veranlasst die Sinti Union Schleswig-Holstein e.V., gemeinsam mit Bürgerinitiativen der Mehrheitsgesellschaft aktiv zu handeln und an die Öffentlichkeit zu gehen, um ein würdiges Gedenken am Gedenkort, welcher für die Sinti:ze und Rom:nja ein Ort der Trauer ist, auch für die nachfolgenden Generationen zu bewahren.
[1] Vgl. Zimmermann, 1996, S. 381.
[2] Vgl. Schumann, 2021, S. 14–22; Broschüre des Historikers Ingo Schumann: https://rundertisch-neumuenster.de/projekte-aktionen/
[3] Berichterstattung zur Aufarbeitung der Schicksale und den Widerständen des Gedenkens: https://freiesradio-nms.de/
[4] Vgl. Widmann, 2001.
[5] Vgl. Robel, 2021, S. 167–189.
[6] Vgl. Stengel, 2019, S. 16–23.
[7] Vgl. Gress, 2022.
[8] Der Autor geht den Entstehungsgeschichten dieser Orte von 1980 bis 2021 in einem Dissertationsprojekt nach.
[9] Den Gedenkort in Neumünster initiierten wie vielerorts Angehörige der Minderheit gemeinsam mit Verbündeten aus der Mehrheitsgesellschaft. Dies widerspricht in gewisser Weise Forschungen der Historikerin Heike Krokowski, die durch acht Interviews mit Kindern und Enkelkindern von überlebenden Sinti:ze ermittelt hatte, dass für die Aufarbeitung und Sichtbarmachung des Völkermordes die Befragten einzig die Mehrheitsgesellschaft in der Pflicht sähen. Vgl. Krokowski, 2001, S. 202–206, 271.
[10] Vgl. https://freiesradio-nms.de/2018/vorerst-kein-denkmal/, letzter Zugriff: 13.06.2022; Antrag Bernd Delfs (SPD), 30.01.2018, Signatur 0426/2013/An, https://www.neumünster.de/verwaltung-politik/politik/ratsversammlung, letzter Zugriff: 15.02.2023.
[11] Vgl. Interview mit Kelly Laubinger, 28.01.2022.
[12] Vgl. Gedenkstätte für verschleppte Sinti und Roma in Neumünster offiziell eingeweiht, Holsteinischer Courier, 22.08.2021.
[13] Vgl. https://freiesradio-nms.de/2018/vorerst-kein-denkmal/; Niederschrift Ratsversammlung Neumünster 17.12.2019 TOP 15 „Gedenktafel für deportierte Sinti und Roma“ Vorlage: 0464/2018/DS. Die einzelnen Redebeiträge der Versammlung sind über die Homepage der Stadt Neumünster einsehbar unter https://www.neumuenster.de/verwaltung-politik/politik
Abbildungen: Mit freundlicher Genehmigung von Kelly Laubinger
Quellenverzeichnis
- Die Aussagen von Kelly Laubinger und Marlo Thormann stammen aus zwei narrativen Interviews des Autors vom 28.01. und 15.04.2022.
- Antrag Bernd Delfs (SPD), 30.01.2018, Signatur 0426/2013/An, https://www.neumünster.de/verwaltung-politik/politik/ratsversammlung, letzter Zugriff: 15.02.2023.
- https://freiesradio-nms.de/2018/vorerst-kein-denkmal/, letzter Zugriff: 13.06.2022.
- Gedenkstätte für verschleppte Sinti und Roma in Neumünster offiziell eingeweiht, Holsteinischer Courier, 22.08.2021.
Literaturverzeichnis
- Gress, Daniela: Nachgeholte Anerkennung. Sinti und Roma als Akteure in der bundesdeutschen Erinnerungskultur, in: Neumann-Thein, Philipp/ Schuch, Daniel/ Wegewitz, Markus (Hg.): Organisiertes Gedächtnis. Kollektive Aktivitäten von Überlebenden der nationalsozialistischen Verbrechen, Göttingen 2022, S. 425-460.
- Krokowski, Heike: Die Last der Vergangenheit. Auswirkungen nationalsozialistischer Verfolgung auf deutsche Sinti. Frankfurt a.M./ New York 2001, S. 202–206, 271.
- Robel, Yvonne: Auf der Suche nach Brüchen. Überlegungen zu einer Geschichte des bundesdeutschen Antiziganismus nach 1945, in: Fings, Karola/ Steinbacher, Sybille (Hg.): Sinti und Roma. Der nationalsozialistische Völkermord in historischer und gesellschaftspolitischer Perspektive, Göttingen 2021, S. 167–189.
- Schumann, Ingo: Sinti und Roma aus Neumünster im Nationalsozialismus. Eine Bestandsaufnahme, Neumünster 2021, S. 14–22.
- Stengel, Katharina: „Wieder hatten wir keine Rechte, standen wieder auf der Straße.“ Die verfolgten Sinti und Roma in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Einsicht, Bulletin des Fritz Bauer Instituts (2019), S. 16–23.
- Widmann, Peter: An den Rändern der Städte. Sinti und Jenische in der deutschen Kommunalpolitik, Berlin 2001.
- Zimmermann, Michael: Rassenutopie und Genozid: die nationalsozialistische „Lösung der Zigeunerfrage“, Hamburg 1996.