In meinem Text geht es um die Frage nach den Folgen der nationalsozialistischen Gerichtsurteile und der Haftstrafen für die Überlebenden und ihre Familien, eine fast vergessene Gruppe von Opfern der nationalsozialistischen Verfolgung, am Beispiel des Strafgefängnisses Wolfenbüttel.
Das Strafgefängnis Wolfenbüttel war die Hauptstrafvollzugsanstalt des ehemaligen Landes Braunschweig in Norddeutschland und damit ein integraler Bestandteil der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik. Darüber hinaus war es ein Beispiel für die weitreichende Verwicklung des deutschen Justiz- und Strafvollzugssystems in die Durchsetzung, Aufrechterhaltung und Radikalisierung der NS-Diktatur. Zwischen 1933 und der Befreiung durch die US-Truppen am 11. April 1945 waren mehr als 15.000 Häftlinge inhaftiert.
Die Gruppe der Gefangenen war durch ihre Heterogenität gekennzeichnet: Sie umfasste Gefangene aus unterschiedlichen sozialen Schichten, Familienverhältnissen und Ländern. Die Verurteilungen dieser Personen unterschieden sich in Bezug auf die Gründe sowie die Dauer und die Bedingungen ihrer Strafen. Auch ihre Erfahrungen im Strafvollzug und die Art und Weise, wie ihre Haftzeit beendet wurde, waren vielfältig.
In lebensgeschichtlichen Videointerviews erzählen Töchter, Schwiegertöchter, Söhne und Enkel von NS-Häftlingen, wie sie mit den Verfolgungs-, Haft- und Verlusterfahrungen in ihren Familien umgegangen sind und welche Auswirkungen die Inhaftierung des Familienmitglieds auf ihr Leben hatte. Die individuellen Lebens- und Familiengeschichten der „nachfolgenden Generationen“[1] sind aus Mosaiksteinen zusammengesetzt: Traumata und Angststörungen, familiäres Schweigen, Unwissenheit, die Suche nach der eigenen Identität sowie die Bewahrung der Erinnerung, politische Verantwortung und soziales Engagement sind dabei wichtige Faktoren.[2]
In der Forschung besteht Konsens darüber, dass nicht nur das Leben der Verfolgten, der so genannten Ersten Generation, sondern auch das Leben ihrer Familienangehörigen von den Erfahrungen und Folgen der Verfolgung des Familienmitglieds geprägt war und ist.[3] Über die Nachwirkungen der KZ-Haft auf die Nachkomm:innen von KZ-Häftlingen sind bereits zahlreiche Studien veröffentlicht worden. Die Erforschung der Folgen der nationalsozialistischen Justiz und des Strafvollzugs für die Familienangehörigen von Verurteilten und Hingerichteten hat dagegen erst in den letzten Jahren begonnen.[4]
Das Familiengedächtnis ist dabei immer in Relation zu den jeweiligen zeitlichen und nationalen gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen der kulturellen Gegenwart[5] und der davon abhängigen öffentlichen Wahrnehmung der Verfolgtengruppe der NS-Justizverurteilten zu verstehen.
Obwohl seit den 1980er Jahren in Westdeutschland ein allgemeines Interesse an der NS-Geschichte zu verzeichnen ist, erfolgte die Bewertung und Anerkennung des Strafvollzugs und der NS-Justizurteile als Unrechtsurteile erst zu einem sehr späten Zeitpunkt in diesem allgemeinen Prozess.
Im Folgenden möchte ich einen Einblick in meine Forschung geben. Im Mittelpunkt stehen die Familienangehörigen der während der NS-Zeit im Zuchthaus Wolfenbüttel Inhaftierten. Ihre Zeugnisse und biografischen Erinnerungen bilden die erste Informationsbasis für meine Forschung.[6] Als weitere Quelle wurden lebensgeschichtliche Videointerviews mit Familienmitgliedern der zweiten und dritten Generation aus Deutschland, Norwegen, Dänemark, Frankreich und Belgien geführt.
Die Erkenntnisse aus beiden Datenbeständen lieferten Antworten auf die folgenden Forschungsfragen:
- Waren die Verfolgungserfahrungen der ersten Generation (negativ) identitätsstiftend für das Leben der Nachkomm:innen? Wurden die Traumata weitergegeben?
- Welchen Einfluss hatten die gesellschaftliche Wahrnehmung und Anerkennung der Verurteilten als NS-Opfer auf das Leben der Familienangehörigen?
- Welche Konsequenzen ziehen die Familienangehörigen für sich selbst?
Erkenntnisse: Die Auswirkungen auf die nachfolgenden Generationen
Elisabeth Jensenius, geboren 1939, Tochter des norwegischen Widerstandskämpfers Wilfred Jensenius, erinnert sich an die familiären Folgen der Albträume ihres Vaters, in denen er auf Deutsch schrie: „Das war für meinen Bruder sicher schlimmer als für mich. Er war klein und ängstlich. Und das hat es für mich unmöglich gemacht, in der Schule Deutsch zu lernen, wie ich später gemerkt habe.“ (Interview mit Elisabeth Jensenius, Wolfenbüttel, 7. April 2018)
Auch die Kinder von Strafgefangenen sind von der transgenerationalen Traumatisierung betroffen.[7] Nach Einschätzung von Elisabeth Jensenius (heute Psychotherapeutin) hatte es ihr 1946 geborener Bruder aufgrund der Traumatisierung seiner Eltern besonders schwer. „Jørgen wuchs in einer Familie auf, die von Anfang an traumatisiert war. […] Ich würde sagen, es war in vielerlei Hinsicht eine trauernde Familie.“[8] Sein Leben war daher sehr stark von den Nazi-Erfahrungen seines Vaters belastet. „Die Schatten der Vergangenheit erdrückten ihn“, beschreibt seine Frau Grete Refsum (geb. 1953) die Situation. Wie sein Vater litt er unter Albträumen und hatte Angst vor dem Einschlafen.[9]
Wenn die „zweite Generation“ Hilfe bei Psychotherapeut:innen suchte, wurde diese zunächst verweigert, weil die Traumatisierung der nachfolgenden Generationen in den 1970er Jahren noch nicht als Krankheit wahrgenommen und anerkannt wurde.
„Damals wurde er jedoch mit den Worten abgewiesen: ‚Was wollen Sie? Sie haben den Krieg doch gar nicht erlebt, Sie haben doch keine Ahnung!'“, erinnert sich seine Frau Grete Refsum. (Interview mit Grete Refsum, Wolfenbüttel, 24. Februar 2018)
Die Konfrontation und Loslösung der Kinder von ihren Eltern und die Verbindung der elterlichen Verfolgung mit ihrem eigenen Leben fand oft erst nach dem Tod der Eltern statt. Der Tod konnte eine „Erleichterung“ sein (Elisabeth Jensenius).
„Es wurde uns sozusagen eine Last von den Schultern genommen, die schon immer da war. Und jetzt können wir irgendwie aufatmen.“ (Interview mit Elisabeth Jensenius, Wolfenbüttel, 7. April 2018)
Eine andere Art, mit den Gefängniserfahrungen der Eltern umzugehen, besteht darin, sie auf sich selbst zu übertragen: „Ich habe praktisch verinnerlicht, was er erlebt hat. Und es gibt Momente, in denen ich denke, dass das alles mir passiert ist. […] Was nicht stimmt, ganz und gar nicht […].“ André Charon, (geb. 1955), Sohn eines belgischen Widerstandskämpfers. (Interview mit André Charon, Brüssel, 4. April 2018)
Aber es gibt auch positive Auswirkungen, die diese Erfahrung auf die Familienmitglieder gehabt haben könnte:
Familienmitglieder von inhaftierten Widerstandskämpfer:innen haben von ihren Eltern auch Stolz, Mut und Kraft erfahren: „Wann immer ich in meinem Leben auf Probleme gestoßen bin, habe ich immer daran gedacht: Es gibt immer eine Lösung, man darf nicht aufgeben. Das ist das Vermächtnis meines Vaters.“[10]
Fazit
Die Verfolgungserfahrungen beeinflussten auch das Leben der Familienangehörigen: In einigen Fällen übernahmen sie die Traumatisierungen oder Gesundheitsstörungen ihrer Eltern und Großeltern. Die Bedeutung dieser Verfolgung für das Leben der Familienangehörigen von Häftlingen des Zuchthauses Wolfenbüttel während der NS-Zeit war und ist sehr individuell.
Für die Familienmitglieder bedeutet die Aufarbeitung ihres Erbes, dass sie lernen müssen, sich mit ihren Eltern oder Verwandten anders zu identifizieren. Die Vergangenheit, die manchmal als große Last empfunden wird, kann in einen positiven und wichtigen Teil ihres Lebens verwandelt werden (traumatisches Wachstum).
Für die persönliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ihrer Angehörigen sind auch die nationalen und gesellschaftspolitischen Kontexte der jeweiligen Erinnerungskulturen ein wichtiges Kriterium. Wichtig ist, ob der öffentliche Diskurs der Gesellschaft die ehemaligen Häftlinge als Opfer anerkennt und ob es öffentliche Gedenkveranstaltungen und Diskussionen gibt oder nicht: Diese Anerkennung der ehemaligen Häftlinge als Opfer kam sehr spät, für manche sogar zu spät und wird mancherorts bis heute diskutiert. Dies betrifft insbesondere ehemalige Häftlinge aus den Gruppen der so genannten „deutschen Strafgefangenen“, Homosexuellen und Militärgerichtsopfer.
Durch die intensive persönliche Auseinandersetzung mit dem Schicksal ihrer Väter und Großväter und die damit verbundene Verarbeitung konnten sie sich lösen und die Familiengeschichte(n) zum Teil positiv und sinnvoll verändern.
Für die Zukunft sehen insbesondere die Nachkomm:innen der politisch Inhaftierten eine persönliche Verpflichtung zum aktiven politischen Handeln, zur Bewahrung der Erinnerung und zur Arbeit als moralische Instanz sowie die Verantwortung, als Impulsgeber:in zu wirken und damit die Erinnerungsarbeit der Gegenwart und Zukunft zu gestalten: „Irgendjemand muss etwas tun: Ich bin dieser Jemand …“[11], so beschreiben Grete Refsum und Jørgen Jensenius ihr Engagement und ihre Lebenseinstellung. Nationale und gesellschaftspolitische Kontexte der jeweiligen Erinnerungskulturen sind auch ein wichtiges Kriterium für die persönliche Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ihrer Väter oder Großväter. Entscheidend ist, ob die Verurteilten in einer Gesellschaft in gesellschaftlichen Diskursen als Opfer anerkannt sind und ob es eine öffentliche Auseinandersetzung mit ihrer Verfolgungsgeschichte und ihrem Leid gegeben hat. „Das Wichtigste ist aber, dass die schwere Last des Verschweigens ein Ende hat. Das Geheimnis ist gelüftet und die Erinnerung hat einen Platz gefunden.“[12]
Das Schweigen wurde gebrochen.
[1] Im Folgenden wird der Begriff „nachfolgende Generationen“ verwendet, um nicht nur die direkten Nachkommen der Überlebenden, sondern alle ihre Nachkommen einzubeziehen. Thorsten Fehlberg, Jost Rebentisch und Anke Wolf, Einleitung, in: Thorsten Fehlberg, Jost Rebentisch und Anke Wolf (Hrsg.), Nachkommen von Verfolgten des Nationalsozialismus. Herausforderungen und Perspektiven, Frankfurt a. M. 2016, S. 11-12, hier S. 11.
[2] Thorsten Fehlberg, Anne Klein (2021): Nachkomm_innen von NS-Verfolgten als erinnerungspolitische Akteur_innen, pp. 237–252. Martina Staats (2021): Unerzählte Geschicht(en). Die Bedeutung für die Familienangehörigen von Verurteilten, pp. 253-269. Oliver von Wrochem (2021): Nachkomm_innen ehemaliger KZ-Häftlinge in der Gedenkstättenarbeit und Geschichtskultur des 21. Jahrhunderts, pp. 271-283. In: Lölke, Janna/Staats, Martina (Hrsg.): richten – strafen – erinnern. Nationalsozialistische Justizverbrechen und ihre Nachwirkungen in der Bundesrepublik. Göttingen: Wallstein.
[3] Günter Saathoff, Zur Eröffnung der Konferenz „Zweite Generation“, in: Fehlberg, Rebentisch, Wolf (Hrsg.), Nachkommen, S.17-18, hier S. 17.
[4] Vgl. Martina Staats, Gebrochenes Schweigen. Der Umgang von Familienangehörigen mit den Folgen von NS-Verurteilungen, in: Staats/Wagner (Hrsg.), Recht, Verbrechen, Folgen, Göttingen 2019, S. 286-293. Wolfgang Huber, der Sohn von Kurt Huber, einem Mitglied der Widerstandsgruppe „Weiße Rose“ blickt auf sein „Leben mit einem Geköpften im Haus“, in: Süddeutsche Zeitung, 11.07.2018; Die Weiße Rose. Kurt Hubers letzte Tage, Kurt Huber (Ed.), München 2018. Vgl. die Memoiren von Wolfgang Linke, Mein Vater Emil Linke and Erika Klug, Mein Vater August Friedrich Wilhelm Klug, in: Hans Coppi und Kamil Majchrzak (Hrsg.), Das Konzentrationslager und Zuchthaus Sonnenburg, Berlin 2015, S. 126-128 und 132-136.
[5] Vgl. Maurice Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a. M. 1985.
[6] Alle Interviews stammen aus der Sammlung der Gedenkstätte in der JVA Wolfenbüttel.
[7] Inzwischen gibt es zahlreiche Publikationen, die die Weitergabe von Traumata und psychischen Belastungen an die Nachkomm:innen der NS-Verfolgten, insbesondere an die Überlebenden der Konzentrationslager, belegen. Vgl. Natan P. F. Kellermann, „Geerbtes Trauma“ – Die Konzeptualisierung der transgenerationellen Weitergabe von Traumata, in: Holocaust und Trauma. Kritische Perspektiven zur Entstehung und Wirkung eines Paradigmas, Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 39 (2011), José Brunner and Nathalie Zajde (Hrsg.), S. 137-160. Nach Kellermann wird das Trauma ausnahmslos von einem oder beiden Elternteilen weitergegeben, so dass der Begriff „elterliche Übertragung“ die präziseste Beschreibung der intergenerationalen Weitergabe von Traumata ist. Vgl. Transgenerationelle Traumatisierung. Sachstand, Wissenschaftliche Dienste, Deutscher Bundestag, WD 1 – 3000 – 040/16, 2017.
[8] Interview mit Elisabeth Jensenius, Wolfenbüttel, 07.04.2018, TC 2_33:27ff.
[9] ebd., TC 04_02 2:13ff.
[10] ebd. TC 01_03 3:43ff.
[11] Eintrag im Besucherbuch der Gedenkstätte, 11. April 2015.
[12] Anonym, Erinnerungen, S. 12