Schon lange beschäftigt sich Jörg Watzinger mit der Geschichte seiner Familie im NS. Sein Vater Dr. Karl Otto Watzinger überlebte das KZ Dachau. Für dessen Mutter Marie bedeutete die Verfolgung ihres Sohnes eine dramatische Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit. Beide wurden Opfer des NS-Regimes. Nun richtet sich Jörg Watzingers Blick auf seinen Onkel Jörg Dietrich, den Bruder seiner Mutter, nach dem er benannt wurde. Jörg Dietrich ließ sich im Herbst 1942 nach Stalingrad einfliegen und galt seit Anfang 1943 als vermisst. Ab 1940 war er bereits in anderen Teilen der Sowjetunion und in Frankreich als Soldat eingesetzt, vorher war er bis zu seinem Abitur 1939 HJ-Führer. Jörg Watzinger beschreibt im Folgenden, wie auch die Geschichte seines Onkels sich auf sein eigenes Leben auswirkt und welche Fragen sich daraus für ihn entwickeln.
Meine Mutter, geb. 1922, und ihr Bruder Jörg Dietrich, der ein Jahr älter war, standen sich sehr nahe. Ihre beiden großen Schwestern waren deutlich älter, 1913 und 1914 geboren.

© Privatbesitz Jörg Watzinger
Er war bei meiner Geburt dabei, obwohl er schon tot war. Auf der Geburtsanzeige stand:
Dankbar und glücklich begrüßten wir am 9. Juni 1955 unseren Sohn. Er soll den Namen seines 1943 in Stalingrad gebliebenen Onkel tragen
Jörg Dietrich

© Privatbesitz Jörg Watzinger
Der andere Jörg
Wer war mein Onkel? Oft habe ich meine Mutter nach ihm gefragt, bis ins hohe Alter von 90 Jahren. Sie sagte nicht viel. Er war ein Menschenführer. Ein verehrungsvoller Ton, ein verklärter Blick.
Meine Großmutter (1881-1972) hat nach dem Tod ihres Sohnes ein Lebensbild zusammengestellt. Es enthält auch seine Feldpostbriefe. Sie schreibt über ihren 12-jährigen Sohn:
Wenn man ihm Hitler aus dem Herzen gerissen hätte, wäre man Gefahr gelaufen, dass man ihm alle seine Ideale mit herausgerissen hätte.
Das war 1933, bevor die HJ verpflichtend wurde.

© Privatbesitz Jörg Watzinger
Mein Großvater Arthur Sommerlatt (1881-1971) hat von 1946-1951 Jahresberichte geschrieben, in denen er seine Gedanken über Politik, Wirtschaft und Familie wiedergibt. Zum Tod seines Sohnes schreibt er 1950:
Er ist in voller Übereinstimmung mit seinen Idealen gestorben, ein beneidenswerter Tod.
Wie konnte es dazu kommen, dass ihr 12-jähriger Sohn ein überzeugter Hitleranhänger wurde? Meine Großeltern kamen aus der christlichen Jugendbewegung: kein Alkohol, kein Sex außerhalb der Ehe, die biblische Überlieferung war für sie bis ins hohe Alter eine zentrale, lebendige, tägliche Reflexionsebene. Die Vereinnahmung der Jugend durch den NS-Staat sahen sie kritisch. Die Eltern und die Kirche waren für sie die natürlichen Autoritäten für die Jugend. Darüber diskutierten sie auch mit der NSDAP Ortsgruppe in Augsburg, was ihnen den Aktenvermerk eintrug:
Die Familie Sommerlatt ist christlich moralisch verseucht, ein hoffnungsloser Fall.
Jung sein als Entschuldigung?
Wenn ich meinen Vater, der drei Jahre als politischer Häftling im KZ Dachau inhaftiert gewesen war, nach meinem Onkel fragte, äußerte er Verständnis für den Bruder seiner Frau. Dieser sei noch jung und verführbar gewesen.

© Privatbesitz Jörg Watzinger
Mein Onkel war bis zum Abitur 1939 HJ-Führer. Ein Foto zeigt ihn mit HJ-Kameraden beim Urlaub in Kroatien. Nach dem Abitur kam er zum Arbeitsdienst. Anschließend wollte er die Offizierslaufbahn einschlagen. 1940 beschwerte er sich, dass er nicht umgehend eingezogen worden war. Er kam dann als einfacher Soldat nach Frankreich, ohne Kampfhandlungen.

© Privatbesitz Jörg Watzinger

© Privatbesitz Jörg Watzinger
1941 war er bei dem Überfall auf die Sowjetunion im Kampfeinsatz. Vor Minsk wurde sein Bein durchschossen, von der eigenen Artillerie. Er konnte nicht mehr an der Waffe eingesetzt werden.
Er nutzte die Zeit im Lazarett und danach, um seine Russisch-Kenntnisse zu vertiefen. Zu der Zeit war noch geplant, Russland nach der Eroberung unter deutscher Verwaltung als Kolonie zu führen.

© Privatbesitz Jörg Watzinger
Im Herbst 1942 ließ er sich, gegen den Rat des Arztes und ohne Rücksprache mit der Familie, nach Stalingrad einfliegen.
Er wollte als Übersetzer von russischen Funksprüchen seine eingekesselten Kameraden beim Ausbruch unterstützen.
Anfang 1943 wurde sein Unterstand von russischen Soldaten erobert. Sein Kamerad ging mit erhobenen Händen nach oben.
Mein Onkel blieb zurück. Ob er erfror oder sich, wie im letzten Feldpostbrief angedeutet, die letzte Kugel selbst gab, bleibt offen.
Eine trauernde Familie
1950 wurde er als vermisst erklärt. In dem Jahr hatten meine Großeltern mit dem Soldat sprechen können, der mit ihm die letzten Stunden verbracht hatte. Meine Großeltern leiteten von 1946 bis 1951 die evangelische Gemeinde in Friedberg bei Augsburg. Dort veranstalteten sie eine kirchliche Trauerfeier für ihn.
Meine Tante Ursel fühlte sich ihr Leben lang mitverantwortlich für den frühen Tod ihres Bruders. Sie hatte ihm zugeraten, Soldat zu werden. Die von der Mutter bevorzugte Berufswahl wäre Arzt gewesen. Wie meine Tante es formulierte, war ihr es wichtig gewesen, ihren Bruder von den Rockschößen seiner Mutter wegzubringen. Seine Entscheidung, sich nach Stalingrad einfliegen zu lassen, kommentierte meine Tante im Alter so:
Wer es wissen wollte, wusste 1942 schon, dass der Krieg nicht gut ausgeht. Jörg Dietrich sah für sich als Nazi und als Kriegsversehrter keine Perspektive für die Zeit nach der Nazi-Diktatur und sah den „Heldentod“ für sich als passende Option.
Rossoschka
Als Ende der 90er Jahre die deutsche Kriegsgräberstätte Rossoschka bei Wolgograd (ehemals Stalingrad) neu eingerichtet wurde, wurde auch der Name meines Onkels auf einem der großen Granitblöcke eingetragen. Das Foto davon war für mich sehr wichtig. Die Erinnerung an ein „Gespenst“ hatte endlich einen Ort gefunden. Meinen Plan, dort hinzufahren, habe ich bisher noch nicht ausgeführt.
Stattdessen habe ich mich immer stärker mit der Familie meiner Mutter und der Frage nach ihrer Rolle in der Nazi-Zeit befasst. 2018 nahm ich in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme an dem Seminar „NS-Täter in der Familie“ teil. Dort war für mich eine Übung wichtig: wir malten auf einem Biografiestrahl, in welchen Lebensphasen die Nazi-Vergangenheit unserer Familie eine wichtige Rolle gespielt hat. Bei mir war es direkt nach der Geburt. Ich hatte in meiner Erinnerung das Bild, dass die Familie meiner Mutter, als sie mich über mein Kinderbett beugten, eher mit Trauer auf mich herabsahen als mit Freude an (m)einem neuen Leben.
Das war ein wichtiger Impuls. Ich war eher mit historischen Fragen gekommen: Was hat mein Onkel als Nazi genau gemacht? Welche Definitionen von NS-Täterschaft gibt es? War er ein NS-Täter? Hatte er wehrlose Menschen erschossen oder ihren Tod auf andere Weise bewirkt? Jetzt kam eine neue Perspektive, die existenzielle, emotionale Frage: Wie hat sich die Trauer meiner Mutter um ihren Bruder auf mich ausgewirkt? Was mache ich mit (m)einer trauernden Mutter?
Sich über Gefühle klar werden
Zwei traumatherapeutische Sitzungen bei Dr. Katharina Drexler haben mir in dieser Frage weitergeholfen.
In einer Sitzung bin ich in Vertretung meiner Mutter zu der Situation zurückgegangen, die damals zu viel war für sie. Der Tod ihres geliebten Bruders, der ohne Abschied gegangen war, der weit entfernt in der Kälte starb, bewirkte bei ihr, dass sie ihr Herz verschloss. Die schönen Gefühle, die sie mit ihrem Bruder in Kindheit und Jugend teilte, waren nicht mehr zugänglich. Als ob ein Buch, dessen Geschichte schön anfängt, an einer dramatischen Stelle zugeklappt wird und für immer verschlossen bleibt. Die Erinnerung dreht sich nur noch um das schlimme Ende. Ihr war es selbst nicht bewusst, dass sie gefühlsmäßig so abgeschnitten war. Ich empfand sie oft emotional unerreichbar, abweisend wie Teflon. In der Sitzung konnte sie ihr verschlossen sein wahrnehmen und sich vornehmen, ihr Herz wieder zu öffnen.
In einer weiteren Sitzung ging ich als Neugeborener zurück in die Situation im Garten meiner Großeltern. Mein Vater war nach meiner Geburt depressiv geworden und in klinischer Behandlung. Meine Mutter ging mit mir zurück zu ihren Eltern. Diese hatten 1951 ein Fertighaus in einem schönen und großen Garten in Willsbach bei Heilbronn gebaut. An sich eine wirklich schöne Umgebung, um auf dieser Welt anzukommen. Aber die Erwachsenen, waren alle distanziert. Keiner nahm mich zu sich. Die gefrorene Trauer um den Sohn und Bruder stand zwischen uns. Sehr irritierend für mich als Kleinen. Ich wurde auf Abstand gehalten. Erst durch eine Person, die mich zu sich nahm, konnte in der Sitzung das Gefühl „es ist schön“ spürbar werden. Mir wurde auch klar, dass diese Distanz nicht mein Problem war, ich war nicht die Ursache. Es war das Problem der Erwachsenen. Sie hatten den Tod ihres Sohnes und Bruders noch nicht verkraftet.
NS-Kriegsverbrechen in der Sowjetunion
Soweit der Blick nach innen, wie sich die NS-Täterschaft meines Onkels auf mich als 2. Generation innerhalb der Familie ausgewirkt hat. Neben dem emotionalen Erbe über meine Mutter gibt es auch noch die andere Blickrichtung: Was hat die Wehrmacht und die anschließende NS-Besatzung in der Sowjetunion angerichtet? Was hat mein Onkel als Wehrmachtssoldat genau gemacht? War er an Kriegsverbrechen beteiligt? Dazu sind Archivanfragen notwendig, die ich noch vor mir habe.
In Folge des Zweiten Weltkriegs kamen allein in der Sowjetunion 30 bis 40 Millionen Menschen ums Leben. Selbst wenn mein Onkel als Soldat der Wehrmacht nur auf Soldaten geschossen haben sollte, hat er den Weg für die rassistische NS-Besatzungspolitik freigeschossen, unter der Morde an Slawen, Juden und Kommunisten nicht als Verbrechen gesehen wurden. Und er hat an diesem Krieg teilgenommen in der vollen Überzeugung, dass Hitler das Richtige mache.
Mein Blick auf die menschlichen, kulturellen und materiellen Verwüstungen in der Sowjetunion begann mit einem Besuch der Wanderausstellung „Vernichtungsort Malyj Trostenez“ in Frankfurt.
Auf einem Podiumsgespräch in Hamburg saß neben mir eine Historikerin. Sie sprach darüber, dass ihr Großonkel, der 1941 in Minsk lebte, der einzige der jüdischen Familie war, der der Ermordung der Juden durch die deutsche Besatzung entkam. Er war damals 16 Jahre alt. Da wurde das, was in den Geschichtsbüchern Holocaust und Vernichtungskrieg genannt wird, für mich spürbar als etwas, das zwischen Menschen geschehen ist und auch weiter zwischen Menschen wirkt.
Dazu habe ich auf der Website von „NS-Familien-Geschichte“ einen Absatz gefunden, der sicher für mich in Zukunft eine Rolle spielen wird:
Die andere Seite sind die Familien der Opfer. Für sie sind die Zerstörungen, Folterungen, Deportationen, Morde, die unsere Familienmitglieder zu verantworten hatten, alles andere als Vergangenheit. Im Gegenteil: Diese Familientraumata spielen im Leben vieler Angehöriger der Opfer bis zum heutigen Tag eine Rolle. Es ist für die Angehörigen der Opfer wichtig, dass wir zur Kenntnis nehmen, welches Leid die Täter und Täterinnen verursacht haben.
Im ARD Mittagsmagazin berichtet Jörg Watzinger über die Recherche zu seinem Onkel. Den Beitrag finden Sie hier.