Der deutsch-schwedische Autor Torkel Wächter nähert sich mit dem Projekt Simulierte Echtzeit der Geschichte seiner deutsch-jüdischen Familie unter der Herrschaft der Nationalsozialisten an und macht sie gleichzeitig einer breiten Öffentlichkeit zugänglich. Von seinem Vater Walter Wächter, der nach der Entlassung aus der Haft im KZ Fuhlsbüttel 1938 Deutschland hatte verlassen müssen, hatte der Autor wenig erfahren. Walter Wächter hatte nach vorne schauen wollen, nicht in die Vergangenheit. Erst nach seinem Tod fand Torkel Wächter Postkarten, die seine Hamburger Großeltern an ihren Sohn im schwedischen Exil bis kurz vor ihrer Deportation geschrieben hatten. Torkel Wächter begann Deutsch zu lernen, reiste nach Hamburg und recherchierte unermüdlich. Mittlerweile haben Torkel Wächter und seine Kinder auch die deutsche Staatsbürgerschaft zurückerhalten.
Für Reflections on Family History Affected by Nazi Crimes hat Torkel Wächter einige Fragen zum Umgang seiner Familie mit dem Erinnern beantwortet.
1. Sie haben die Weitergabe Ihrer Familiengeschichte als nonverbal bezeichnet. Was hat Ihr Vater Ihnen an Werten und Umgangsformen im Alltag weitergegeben? Welche Rolle hat die schwedische Herkunft Ihrer Mutter im Familienleben gespielt?
Es existiert bestimmt eine non-verbale Weitergabe von vielem, nicht nur Werten und Umgangsformen. Ja, ich fühle mich in der deutsch-jüdischen Welt der Weimarer Republik zu Hause. Wie dieses Gefühl weitergegeben wurde, kann ich nicht richtig sagen. Es wurde mit Blicken, Schweigen und dem was zwischen den Zeilen gesagt wurde weiterleitet. Sebald schreibt in seinem Essay „Luftkrieg und Literatur” darüber wie stark etwas präsent sein kann ohne jemals besprochen zu werden. Ich finde die Frage sehr interessant.
Ich bin mit einem sehr deutschen Vater aufgewachsen. Das habe ich verstanden. Er war ein politischer Mensch, der gegen den Nazis gekämpft hat. Er hat sich selbst mehr als Sozialist und Nazi-Gegner denn als Jude verstanden. Und er wurde auch als politischer Gegner im KZ eingesperrt, nicht als Jude. Er sah sich nicht als Opfer. Politische Gespräche wurden bei uns zu Hause oft geführt. Manchmal wurden sie mir zu viel. Ich bin auch in einem sehr schwedischen Kontext aufgewachsen. Zu Hause haben wir nur Schwedisch gesprochen. Beide meine Eltern waren Sozialdemokraten (meine Mutter lebt noch) und überzeugt, dass Menschen gleich sind, Männer und Frauen, die im Land Geborenen genauso wie die im Ausland Geborenen.
Mein Vater war ein politischer Mensch. Er schrieb Artikel für Zeitungen. Er hat niemals Angst gehabt, Ungerechtigkeit zu verurteilen. Wenn er sie irgendwo gesehen hat, hat er reagiert. Er war aber klug genug, niemals ein politisches Amt zu suchen. Er hat verstanden, dass er als naturalisierter Schwede verwundbar wäre.
2. Sie nennen die Geburt Ihres ersten Sohnes als Auslöser für die intensive Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte. Was geben Sie an Ihre Kinder weiter? Wie erinnern Sie sich gemeinsam an die Geschichte Ihrer Familie und an den Holocaust allgemein?
ch selbst habe als Kind nicht viel von meiner deutschen Familiengeschichte gewusst. Ich wollte meine Kinder eine deutsche Geschichte geben, auf die sie stolz sein können. Wir sprechen oft über die Familie, nicht nur über meine beiden Eltern und ihre Familien sondern auch die Eltern meiner Ehefrau und ihrer Familien. Ich finde, dass es wichtig ist, die eigene Geschichte zu kennen. Für uns als Familie ist die Shoah nicht das wichtigste. Sie ist geschehen und man muss darüber Bescheid wissen. Aber was für uns als Familie wichtig ist, ist das Leben, das wir hier mit einander leben, und das Leben, das andere vor uns gelebt haben. Wir suchen uns die guten Teile heraus.
Wir sprechen mit den Kindern über die gegenwärtige Flüchtlingssituation. Sie wissen, dass der Opa einmal Flüchtling gewesen war und dass er als solcher nach Schweden gekommen ist. Das ist ein Teil unserer persönlichen Haggada – ”Wir waren einmal Flüchtlinge”. Die Kinder kennen auch so genannte ”illegale” Flüchtlinge und wissen, dass sie ganz normale Menschen sind.
3. Welche Reaktionen gibt es auf Ihr Projekt Simulierte Echtzeit?
Es gibt nur positive Reaktionen auf diesem Projekt. Am Anfang dachte ich, dass ich auch respektlose Reaktionen bekommen würde und hatte ein bisschen Angst davor, aber das ist nicht passiert. Nicht einmal eine einzige E-Mal. Ich habe natürlich Spam bekommen, aber keine respektlosen E-Mails. Wenn ich daran denke, bin ich eigentlich erstaunt.
Die meisten E-Mails kommen aus Deutschland und aus den Vereinigten Staaten. In Deutschland beschäftigen sich viele Menschen mit dieser Epoche und wie es dazu kommen konnte. Es gibt eine ”Betroffenheitskultur” und Menschen, die scheinbar wirklich unter der Last der Geschichte leiden.
4. Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft der Erinnerung?
Ich denke, jeder Mensch muss seine eigene Erfahrungen mit den Erinnerungen an diese Zeit machen und sein eigenes Verhalten dazu entwickeln. Unsere drei ältesten Kinder sind alle in den jüdischen Kindergarten gegangen und sie gehen alle drei in die deutsche Schule in Stockholm. Sie fühlen sich sowohl in einem jüdischen als auch in einem deutschen Kontext zu Hause. Selbstverständlich fühlen sie sich auch in einem schwedischen Kontext wohl. Für sie ist es völlig normal dazuzugehören.
Ich hoffe, wir werden weniger und weniger „depressiv“ mit diesem Thema umgehen. Ich finde es gut, dass die jüngeren Generationen in Deutschland sich nicht so schuldbeladen wie ihre Vorfahren fühlen. Um eine gute Gesellschaft zu gestalten, bedarf es Bewusstsein für die Geschichte, aber vor allem auch Optimismus und Vertrauen in den Menschen. Mit weniger „depressiv“ meine ich im Übrigen: Nicht so viel an die grauenhaften Verbrechen denken, sondern mehr an das, was verloren ging. Die Verbrechen können nicht getilgt werden. Bald sind die Verbrecher auch nicht mehr da. Dann können wir uns erlauben, die Verbrecher zu vergessen und an die Menschen denken, die früher zusammen lebten, und was sie zusammen schufen. Das, was einmal war, ist nicht umsonst gewesen, auch wenn es schlecht zu Ende ging. Das, was verloren ging, können wir feiern. Es waren Brücken da. Es klingt vielleicht absurd, über die Zeit vor der Shoah als einer Blütezeit zu sprechen, aber genau so spricht man in jüdischen Kreisen oft über die Zeit vor 1492 in Spanien, bevor die Juden aus Spanien entweder vertrieben oder ermordet wurden. Die war auch eine komplizierte, aber in kultureller Hinsicht eine sehr interessante und erfolgreiche Zeit. Und wir können versuchen etwas davon, oder etwas ähnliches, wieder entstehen zu lassen. Das wäre toll.