Luise Gutmann hat diesen Beitrag für die Veranstaltung „Erinnern heute – Zeugnis der Nachkommen“ in Dachau, am 5. und 6. Juni 2024, verfasst. Konzipiert und vorbereitet wurde das Symposium von Nachkommen NS-Verfolgter Regionalgruppe Süd. Die Koordination und Förderung lag bei der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes Bayern e.V. in Kooperation mit der Stiftung Bayerische Gedenkstätten. Die Regionalgruppe Süd besteht seit 2017. Sie trifft sich zweimal im Jahr in München. Luise Gutmann, geb. Lehner, wurde am 22.07.1947 in Freising geboren. Seit 1968 lebt sie in Regensburg. In den frühen 70er Jahren begann ihr Engagement für das, was heute als Erinnerungs- und Gedenkkultur bezeichnet wird und damals erst erfunden wurde.
Es fällt mir nicht leicht auf diesem Podium über mich selbst und meine Familie zu sprechen.
Als ich 1947 in Freising geboren wurde, war mein Vater Max Lehner Rechtsanwalt. Geboren wurde ich im Haus meines Großvaters, Jakob Lehner, am Plantagenweg 1, dem Haus aus dem ein Nazimob meinen Vater in der Novembernacht 1938 aus dem Bett holte. Wie Irma Holzer, die Tochter einer Freisinger jüdischen Familie, wurde er misshandelt und gedemütigt. Ein 3000-köpfiger Mob „führte“ ihn durch die Hauptstraße, mit einem Schild um den Hals „ich bin ein Judenknecht“. Die Kleinstadt hatte damals keine 30.000 Einwohner.
Eine Nacht Schutzhaft und ein paar Tage später ließ ihn der Nazi-Kreisleiter mit uniformierter Polizei aus einer Gerichtsverhandlung holen. In der Folge verlor mein Vater – damals 32 Jahre alt – seine Praxis in Freising, seine Zulassung als Anwalt; und er wurde des Landes Bayern verwiesen. Er hatte Freisinger jüdische Geschäftsleute vertreten, Nazigegner verteidigt und junge Frauen, die sich gegen eine Zwangssterilisation vor Gericht wehrten. Es hat wohl wenige Anwälte gegeben, die Mandanten im KZ Dachau besuchten. Er war bekannt als Anwalt der Nicht-Nazis.
Meiner Mutter, die meinen Vater erst Anfang der 40er Jahre kennenlernte, erzählte er von dieser Schmach in der Pogromnacht nichts. Sie erfuhr die Geschichte erst nach ihrer Hochzeit 1946 von ihrem Schwiegervater.
An dieser Stelle möchte ich Bert Brecht zitieren:
Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser.
Diesen Hass und diesen Zorn habe ich erlebt. Einen inbrünstigen Hass, einen heiseren Zorn. Noch heute höre ich in der Stimme meines Großvaters die Verachtung gegen „diese Staatsverbrecher!“. Und ich lebte in der Überzeugung, dass alle Welt die Nazis verachte und das zu Recht.

© Luise Gutmann
Tatsächlich aber kontrastierte diese unversöhnliche Haltung gegenüber den Nazis und dem NS mit einer Umgebung, die keineswegs mit dem Nazismus gebrochen hatte und ihrerseits vielfach zum Schweigen verdammt war. Ich kam den Dingen nur nach und nach auf die Spur. Ich empfand den Boden, auf dem ich mich in dieser Gesellschaft bewegte als brüchig. Als sehr dünnes Eis.
Nach dem Wechsel an die Städtische Mädchenoberrealschule wurde es schwierig für mich, Freundschaften zu schließen. Ich zerbrach mir den Kopf, warum die Mitschülerinnen den Nachhauseweg nicht mit mir teilen wollten. Ich fand keine Antwort. Mein Vater war während meiner gesamten Schulzeit Oberbürgermeister der Kleinstadt. Unsere ganze Familie lebte aus verschiedenen Gründen in einer relativen Isolation. Gleichzeitig war die soziale Kontrolle enorm. Ich fand die Welt, in der ich lebte, eng und doppelt eng für ein Mädchen. Nach dem Abitur verließ ich die Stadt fluchtartig. Aber das lähmende Gefühl, dass plötzlich der Boden unter mir explodieren könnte, blieb. Ab 1968 studierte ich in Regensburg.
1972 beschloss ich politisch aktiv zu werden und das gemeinsam mit anderen. Mir war vollkommen bewusst, dass diese Entscheidung Folgen haben würde, auch wenn ich nicht genau wusste, welche im Einzelnen. Seit Anfang des Jahres war der Beschluss der Ministerpräsidenten und des Bundeskanzlers in Kraft. Die Zeit der Berufsverbote hatte begonnen.1
Aber es war mein Entschluss gegen alte und neue Nazis, gegen rechte Umtriebe aktiv zu werden und das Schweigen über die Naziverbrechen zu beenden. Eines unserer ersten Vorhaben in der Stadt Regensburg war, die letzten Nazi-Opfer dem Vergessen zu entreißen, nach dem Motto „Den Toten zur Ehr – den Lebenden zur Mahnung“, und zu fragen, wie steht es heute um unsere Demokratie. Ein würdiges Gedenken an die Opfer zu schaffen, das war der Anfang der Erinnerungskultur in Regensburg. Darauf bin ich stolz.
Hatte das etwas mit meiner Familiengeschichte zu tun? Damals stellte sich mir diese Frage nicht. Mit meinen Aktivitäten setzte ich mich vielmehr in Gegensatz zu meinem Vater. Er war zeitlebens in keiner politischen Partei. Als er durch Dritte erfahren hatte, dass ich mich in einer linken Gruppe bewegte, schrieb er mir einen Brandbrief. Er hatte Angst!
Einige Jahrzehnte später setzte ich mein Engagement gegen rechts in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten fort. Immer noch für eine würdige Erinnerungskultur.
Erst in den letzten Jahren bin ich wiederholt gefragt worden, ob ich einen persönlichen, familiären Bezug zum Thema hätte. Das hat oft meinen Unmut hervorgerufen. Es ist meine ureigene Entscheidung hier zu sitzen. Ich setze gern alle meine Ressourcen für unsere Anliegen ein: die Erfahrungen, die ich gemacht habe, was ich herausgefunden habe, Zeit, Geld, Geduld, Nerven und darüber hinaus alles, was ich an Tugenden und Untugenden von zuhause mitbekommen und mitgenommen habe.

Ich möchte diese Gelegenheit wahrnehmen und Dr. Guido Hoyer herzlich danken dafür, dass er die Verfolgungsgeschichte meines Vaters historisch erforscht und veröffentlicht hat.2 Guido Hoyer ist Historiker, Politikwissenschaftler, Autor und Geschichtsreferent der Stadt Freising. Ich bin auch sehr froh, dass sein Vortrag im Historischen Verein großes Interesse bei der Freisinger Zuhörerschaft gefunden hat. Meine Neffen, die ihren Großvater nicht mehr persönlich kennen lernen konnten, sind auch alle zu dem Vortrag nach Freising gekommen. Darüber habe ich mich gefreut.
Ich komme zum Schluss.
Mein Vater, Max Lehner, äußerte sich 1947 vor der Spruchkammer zu seiner Aufgabe als Anwalt unter dem NS-Regime. Er sagte:
„Der Nationalsozialismus war eine Gewaltherrschaft ohne Recht für den einzelnen. Er hat die früheren Gesetze vielfach formell aufrechterhalten, in Wirklichkeit haben seine Organe willkürlich gehandelt und sich über die Gesetze hinweggesetzt. Außerdem gab es aber die spezifischen Gesetze, wie das Heimtückegesetz, das Erbgesundheitsgesetz usw. Der Rechtsanwalt hatte die Aufgabe, in den ersteren Fällen das formell noch bestehende Gesetz zum Schutz des Einzelnen gegen Willkürakte zur Geltung zu bringen und in den letzteren Fällen den einzelnen vor den formell gültigen Gesetzen zu schützen. Dagegen hat es kein nat.soz. Verbot gegeben, die Partei hat sich eine solche Blöße nicht gegeben nach außen. Die gefährlichsten Verbote aber waren die unausgesprochenen. Inhalt dieser Rechtsanwaltstätigkeit aber war – trotz dieser unausgesprochenen Verbote – Widerstand gegen das nat.soz. Unrecht, die Gewaltherrschaft, zu leisten.“3
- Zur Anwendung des Radikalenerlasses von 1972 und Berufsverboten an der Universität Regensburg in den 1970er Jahren siehe Bierwirth, Waltraud (2013): Über die Kontinuität von Gesinnungsschnüffelei und Obrigkeitsstaat. Von den Schwierigkeiten der Erinnerung an Elly Maldaque. In: Bierwirth, Waltraud/Gutmann, Luise/Himmelstein, Klaus/Petzi, Erwin (Hrsg.): Der Fall Maldaque. Ein Willkürakt mit Todesfolge. Regensburg: Friedrich Pustet. ↩︎
- Hoyer, Guido (2018): 1938/39 – Max Lehner und seine Verfolgung durch die NSDAP. In: Götz, Ulrike (Hrsg.): 44. Sammelblatt des Historischen Vereins Freising. Beiträge zur Freisinger Geschichte des 20. Jahrhunderts. Freising: Historischer Verein Freising, S.97-116. ↩︎
- Max Lehner an Spruchkammer Freising-Stadt, 02.08.1947, StAM, Spruchkammern 3210 Max Lehner ↩︎