Meine Zukunft der Erinnerung
Ich beschreibe hier im Blog meine Auseinandersetzung als Nachkommin eines Täters aus mehreren Gründen: das Geschehene darf niemals in Vergessenheit geraten. „Zeitzeugenpaten“ werden das Wissen und die Erinnerung von Generation zu Generation in Patenschaften weitergeben müssen und so die Aufgabe der scheidenden Generation übernehmen; die Begegnung und der Austausch zwischen den nachfolgenden Generationen der Opfer und Täter halte ich für sehr wichtig. Ich möchte offen und rechtzeitig Widerstand leisten gegen die neonazistischen Strömungen, Kräfte, Parteien, Personen in unserer Gesellschaft.
Die Begegnung mit Robert Pinçon
Meine Zukunft der Erinnerung begann in dem Moment als die Bergedorfer Zeitung mich zum Interview mit Robert Pinçon, dem damaligen Präsident der Amicale Internationale de Neuengamme, schickte. In der KZ-Gedenkstätte Neuengamme wollte er die Häftlingskleidung seiner Mutter an Dr. Christl Wickert, seiner Biografin, übergeben – als Erinnerungsdokument für die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück. Hier war seine Mutter während der NS-Zeit in Gefangenschaft gewesen. In diesem Moment hat mich meine Vergangenheit eingeholt. Wie kann eine Tochter eines Täters (mein Vater war Hauptsturmführer in der 1. SS Leibstandarte Adolf Hitler, Waffen SS), einem Menschen wie Robert Pinçon, der im KZ Neuengamme unter dem Nazi-Regime gelitten hatte, überhaupt die Hand geben? Ohne zu verbrennen?
Scham und Zweifel und Angst waren meine Begleiter während des Interviews. Das deutsch-französische Gespräch übersetzte Dr. Christl Wickert. Später gingen wir gemeinsam zum Parkplatz und all meine zurückgehaltenen Gefühle platzten auf einmal aus mir heraus. „Was hätte Herr Pinçon nur gesagt, wenn er gewußt hätte, wer da vor ihm steht?“ Im Schnelldurchgang erzählte ich Dr. Wickert meine Familiengeschichte und sie kam zu dem Schluss, dass er es begrüßt hätte, wenn ich mich offenbart hätte. Den Schritt der Begegnung zwischen Täter-Angehörigen und Verfolgten und ihren Angehörigen zu wagen, sei der weiterführende Weg. Für mich hat die Begegnung mit Robert Pincon sehr viel bedeutet und ich bin sehr dankbar, dass sie mir zuteil wurde.
Seminarreihe „Ein Täter in der Familie?“
Christl Wickert erzählte mir von den Forschungsseminaren „Ein Täter in der Familie?“ von Dr. Oliver von Wrochem. Ein halbes Jahr später nahm ich teil.
Rückblende
Früher war mein Vater mein Held. Mit zehn Jahren hing ich an seinen Lippen, wenn er seine Kriegsgeschichten erzählte und über Gott und die Welt und das Leben philosophierte. Alles was er erlebt hatte, präsentierte er mir in lustigen Geschichten, so spaßig und bunt ausgeschmückt, dass selbst Tod und Verderben wie ein vergnügliches Spiel daherkamen. Ich erfuhr, wie tapfer er kämpfte, welche Orden er erhielt, wie schwer er verwundet wurde, wie furchtbar er während seiner zwölfjährigen amerikanischen Kriegsgefangenschaft in Landsberg litt.
Der verwundete Kriegsheld stürzte während meiner Pubertät vom Sockel. Im Gymnasium Lüchow arbeitete das Lehrerpaar Warnke mit uns Schülern die NS-Zeit mit allen Facetten auf. Das veränderte meinen Blick gründlich. Ich ging in die Auseinandersetzung und Anklage mit meinem Vater: „Du bist ein Mörder. Du hattest auch damals die Wahl.“
Demonstrationen wie „Rock gegen Rechts“ und ein steter verbaler Kampf gegen rechtes Gedankengut in meiner Umgebung folgten. Ich weiß nicht mehr wie viele Tränen ich wegen der Greueltaten des NS-Regimes vergossen habe – noch heute bin ich fassungslos, aber nicht mehr hilflos.
Innerlich blieb mein Vater ein ambivalenter Held – ich suchte nach Entschuldigungen für sein Verhalten, glaubte seinen Beteuerungen, nie Nazi gewesen zu sein. Später, nach seinem frühen Tod mit 71 Jahren, folgte mit therapeutischer Hilfe eine lange und schmerzhafte Aufarbeitung der Vater-Figur mit seinen Taten vor und während unseres Familienlebens. „Täterintrojekt“ war das Wort, was mich maßgeblich befreite. Mir wurde klar, dass ich meinen Vater verinnerlicht hatte. Vielleicht stand ich deshalb auch so voller Angst und Scham vor Robert Pinçon?
Aufarbeitung
Der nächste wichtige Schritt der Verarbeitung erfolgte im Seminar „Ein Täter in der Familie?“ von Dr. von Wrochem in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Hier gelang es mir, meinen Vater als Täter zu erkennen, es zu fühlen und es auszusprechen. Die Auseinandersetzung mit meinem Vater gipfelte in einem Plakat. Gemalte Symbole, Zeichen, Schrift – für mich ehrlich und absolut stimmig und lösend – brachte ich zu Papier und teilte sie mit der Gruppe.
Eigentlich wollte ich weiter forschen, schaffte es aber nur bis auf meinen Dachboden, wo ich alle Dokumente meines Vaters fand, die mir Aufschluss seiner Geisteshaltung gewährten. In meiner Erinnerung fügen sich alle Puzzelteile zusammen und ergeben ein trauriges Gesamtbild einer Familie, in der noch nach 1945 vieles weiterlebte, was diese schreckliche Zeit ausgemacht hat. Ich bin groß geworden in dieser Atmosphäre der „Judenwitze“, der Ablehnung alles „Andersartigen“, der Verherrlichung des Krieges und den strategischen Planspielen, der Auffassung „der Zweck heiligt die Mittel“ und der Schuldzuweisung an die Schandtaten der Russen, Amerikaner etc. Als ich Kind war, habe ich so sehr mit meinem Vater, meiner Mutter und meiner Oma gelitten und ihre „Peiniger“ gehasst. Ich bin dankbar, dass ich mich von der unterschwelligen Ideologie nicht habe einfangen lassen, dass ich Menschen um mich hatte, die mir andere Wege aufzeigten.
Denkmal für ehemalige Zwangsarbeiter in Bergedorf
Danach war der Prozess für mich zunächst abgeschlossen. Bis Bergedorf durch eine Diskussion um ein Denkmal für Zwangsarbeitererschüttert wurde und dabei unfassbar viele Neo-Nazis an die Oberfläche spülte. In Folge setze ich meine Auseinandersetzung auch künstlerisch um – in der Installation „Die Augen des ewigen Bruders“. Die Installation besteht bisher aus 16 gerahmten Monotypien (Druckfarbe, Papiere, Kunststofffolien), die so lange von mir weiter entwickelt werden, wie es sich richtig anfühlt.
Die Augen des ewigen Bruders“ – Geschichte der Installation
Stefan Zweig und seine Legende „Die Augen des ewigen Bruders“ haben mich als Teenager schwer beeindruckt. Darin geht es um Kriege und Taten, die wir uns gegenseitig antun. Bis einer, der große Krieger Virata, aus Versehen seinen Bruder tötet. Dadurch geläutert, schaut er mit anderen Augen in die Augen seines Feindes und sieht, das ist ein Mensch, wie sein Bruder, wie er selbst. In Folge versucht er in vielen Stationen so zu leben, dass er sich nicht an Anderen schuldig macht.
Zwischen der Lektüre dieses Buches und der Entstehung der Wand-Installation „Die Augen des ewigen Bruders“ liegen 40 Jahre – und eine stete Auseinandersetzung mit dem Mensch-Sein, mit Gut und Böse, Richtig und Falsch und allen Grautönen dazwischen. In diesen 40 Jahren erlebte ich Gewissens- und Meinungsbildung, abgeschliffen durch Weltgeschehen, gesellschaftliche Ereignisse und persönliche Erfahrungen. In diesen 40 Jahren habe ich immer wieder versucht – vom Schulunterricht bis heute – zu begreifen, was damals in der NS-Zeit passiert ist – mit den Mächtigen und den Ohnmächtigen, mit den Machern und den Mitläufern, mit den Sichtbaren und den Unsichtbaren, mit den Mutigen und den Feigen, mit den „Anormalen“ und den „Normalen“, die das Grauen geduldet und ermöglicht haben.
Mein Interview mit Robert Pinçon, der das KZ-Neuengamme überlebte, war ein erschütterndes Erlebnis. 2012 besuchte ich in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme das Seminar „Ein Täter in der Familie?“, das von Dr. Oliver von Wrochem schon seit vielen Jahren angeboten wird. Hier hat sich viel für mich geklärt. Schon Jahre vorher war mir klar geworden, wie kriegsversehrt meine Generation (ich bin 1957 geboren) ist, sowie die vorher Geborenen und auch die nachher Geborenen bis weit in die Urenkelgeneration hinein. Eine Traumatisierung, die sich wie ein roter Faden bis heute zieht.
Quelle für die Installation
Doch zurück zu den „Augen des ewigen Bruders“. Sie sind nicht nur in 40 Jahren gereift, sondern sind auch aus einem aktuellen Anlass entstanden. 2011 entbrannte in Bergedorf eine geradezu irrwitzige Diskussion um ein Denkmal für Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge, die hier im Landgebiet Opfer nationalsozialistischer Verbrechen geworden waren. Ausgangspunkt war ein Schülerwettbewerb, dessen prämierter Entwurf aus technischen und Kostengründen nicht umgesetzt wurde. Stattdessen erhielt der von mir sehr geschätzte Künstler Jan de Weryha den Auftrag, gemeinsam mit der Gewinnerin eine machbare Denkmallösung zu entwickeln.
Das Ergebnis führte wieder zu äußerst unschönen Kommentaren u. a. vor dem Hintergrund, dass rechte Kräfte auch in Bergedorf nicht aufhören, den Holocaust zu leugnen. Einige Stimmen sprachen sogar laut aus, dass es für Zwangsarbeiter kein Denkmal geben müsse. 2012 wurde das Denkmal in Bergedorf eingeweiht. Das Unfassbare geschah – während der Zeremonie griff ein Neo-Nazi die polnischen Ehrengäste, Überlebende der NS-Zeit, an und verletzte sie mit Pfefferspray. Wieder erlebten die ehemaligen Zwangsarbeiter Willkür und abgrundtiefe Bösartigkeit. Das alles hat mich bewegt und bewegt mich noch. Das ist die Quelle für die Installation „Die Augen des ewigen Bruders“ – 16 schwarze Rahmen in Gitter angeordnet sollen Unterdrückung und Gefängnis symbolisieren. Aus jeden Rahmen schaut ein individuelles Auge, Symbol für das Leiden, welches Menschen sich gegenseitig zufügen.
Heute – wo wir fassungslos auf Pegida und ihre Ableger-Demos schauen, wo der Platz neben bärtigen Ausländern in der S-Bahn leer bleibt, wo junge Menschen mit „ausländischem Aussehen“ nicht mehr in Discotheken gelassen werden, heute – wo Unterkünfte für Migranten angezündet werden, wo Flüchtlinge aus Syrien und Afrika hier in Deutschland auf offener Straße beschimpft und geschlagen werden – heute ist es höchste Zeit, allen Menschen in die Augen zu schauen und darin einen Menschen, meinen „Bruder“ , meine „Schwester“, meinen „Freund“ zu erkennen und danach zu handeln.