Das bild, das ich von meinem grossvater habe, ist immer gleich geblieben. Das eines helden, also eines vorbildes
Robin Evans ist der Enkel von Pascal Vallicioni, Häftlingsnummer 43778, der die Deportation in das Außenlager Wilhelmshaven des KZ Neuengamme überlebt hat. Robin ist 19 Jahre alt, Pascal ist 90 Jahre alt. Robin hat vom 24. bis 28. Mai 2017 zum ersten Mal an der Pèlerinage der französischen Amicale zur KZ-Gedenkstätte Neuengamme gemeinsam mit seinem Großvater teilgenommen.

Remembrance Day for the Deportation in Grasse (France), April 30, 2017 – Robin and his grandfather have just placed a wreath in front of the Memorial for the Deportees. © P. Evans, 2017
Robin, kannst Du uns sagen wann und wie du erfahren hast, dass dein Großvater deportiert wurde?
Ich kann mich nicht an einen bestimmten Moment erinnern. Eigentlich habe ich das Gefühl, mit dem Wissen aufgewachsen zu sein, dass mein Großvater am Zweiten Weltkrieg teilgenommen hat. Je älter ich wurde, desto mehr habe ich verstanden, welche Rolle er darin gespielt hat, was dieser Krieg war, seine Akteure, seine Ursprünge und Motive, und auch was die Deportation bedeutete. Ich habe aber die Wirklichkeit der Deportation erst später verstanden, durch die Geschichte, die Literatur (insbesondere durch Primo Levi) und durch die Gespräche mit meinem Großvater, aber immer schrittweise.
„Mein Großvater und meine Mutter haben mir die Wirklichkeit der Deportation im Rahmen meines Heranwachsens erklärt.“
Heute erzählt er mir die Einzelheiten seines Tagesablaufs als Häftling und ich beginne gerade erst damit, diese Bedingungen in ihrer Gesamtheit zu erfassen.
Was war deine Reaktion?
Je mehr ich verstand, was es bedeutete « deportiert zu sein », fragte ich mich vor allem: Wie kann man unter diesen Bedingungen überleben und warum hat man sogar den Willen zu überleben ?
„Ich wollte verstehen, wie mein Großvater und die ganzen anderen es geschafft haben, am Leben festzuhalten, ob sie darüber nachdachten, ob sie überhaupt an irgendetwas dachten. »
Dieses schrittweise Lernen hat mich zu Fragen über unsere Menschlichkeit gebracht, wovon sie damals abhing, mit einem Gefühl zwischen Neugier und Grauen.
Welchen Einfluss hat die Geschichte deines Großvaters auf dein Studium gehabt, auf dein Verhältnis zur Geschichte und insbesondere zur Geschichte des Zweiten Weltkrieges?
Die Geschichte meines Großvaters hat, bevor sie meine Studienwahl beeinflusst hat, erstmal mich selbst beeinflusst. Sie hat mich auf eine gewisse Art geprägt. Wie ich es schon sagte, ich bin mit dieser Geschichte aufgewachsen und, auch wenn sie anfangs verschwommen erschien, ist das Bild, das ich von meinem Großvater habe, immer gleich geblieben. Das eines Helden, also eines Vorbildes. Sie hat auch tatsächlich mein Studium beeinflusst, da ich begonnen habe, mich verstärkt für Geschichte und grundsätzlich für Geisteswissenschaften zu interessieren .
„Ob es nun die Geschichte ist, in der man faktische Wahrheiten finden kann (zumindest, wenn die Erinnerungskämpfe ein Ende gefunden haben), oder die Philosophie, die ich für die Quintessenz unseres Menschseins halte, und für mich insbesondere die politische Philosophie. Sie erfordert es, sich tiefergehend mit Geschichte zu befassen, da man dieses Phänomen verstehen möchte. Dies führt zum Studium des Zweiten Weltkrieges und der Geschichte.“
Ich habe mich schließlich für das Jurastudium entschieden. Ich beschäftige mich mit den Idealen der Gerechtigkeit und vor allem mit den Mechanismen, die die Rechte des Einzelnen garantieren, damit solche Taten, wie sie im „Dritten Reich“ passiert sind, sich nicht wiederholen. Dadurch, dass sie mich mit einem tiefen Humanismus versehen hat, hat die Geschichte meines Großvaters mich in meinem Studium und meinem Leben ganz allgemein beeinflusst.

Pèlerinage der Amicale française de Neuengamme, 26. Mai 2017 – Robin steht mit seinem Großvater am Standort des ehemaligen Lagereingangs des Außenlagers Wilhelmshaven. © J. Gicquel
Hast Du darüber mit anderen Personen gesprochen und, egal ob ja oder nein, aus welchen Gründen?
Ja, mit meinen Eltern. Vor allem mit meiner Mutter, die mich für das Thema der Deportation schon früh sensibilisiert hat. Ansonsten ist es interessant und auch frustrierend zu sehen, dass andere Personen, mit denen ich kurz ins Gespräch komme, absolut nichts über die Deportation wissen und für das Thema überhaupt nicht empfänglich sind.
„Der Fehler liegt an unseren Schulen, die bereits ab der Grundschule die gesamte Deportation einbeziehen in den Genozid an den Juden, ohne sie in ihren gesamten Aspekten zu behandeln.“
Die meisten Menschen, mit denen ich spreche, verwechseln Konzentrationslager mit Vernichtungslagern. Manche wissen nicht einmal, dass es Konzentrationslager gab.
Was empfindest du gegenüber den Deutschen im Allgemeinen und wie ist deine Einstellung bezüglich der Nachkommen von Nazis?
Ich mache dem deutschen Volk keine Vorwürfe, ebenso wenig den Nachkommen von Nazis. Alles andere wäre ungerecht. Mehr noch, die Übertragung von Verbrechen eines Individuums an seine Nachfahren ist für mich unsinnig. Allerdings bin ich, noch heute, gespalten was das „deutsche Volk der damaligen Zeit“ angeht. Natürlich hege ich den damaligen Deutschen gegenüber negative Gefühle, ganz zu schweigen von denen, die aktiv am Regime teilgenommen haben. Es waren vollkommen indoktrinierten Personen, die, sogar wenn sie mehr oder weniger wussten, was in den Lagern passierte, niemals den Blick auf die Realität der Deportation gerichtet haben. Ich empfinde immer noch Wut auf diejenigen, die über diese Realität Bescheid wussten und mehr noch auf die Personen, die daran teilgenommen haben.
Aus welchen Gründen engagierst du dich in der Amicale de Neuengamme? Warum hast du in diesem Jahr an der Pèlerinageteilgenommen? Was hat dir diese Reise gebracht?
Zunächst habe ich mich engagiert, um meinem Großvater zu zeigen, dass ich die Erinnerungsarbeit unterstützen möchte. Dann auch, um mehr Personen für das Thema der Deportation zu sensibilisierten, ohne dies über große humanistische Reden zu tun, sondern einfach, indem ich in der historischen Wahrheit verbleibe, die bereits für sich sehr bedeutsam ist.
„An dieser Pèlerinage habe ich ebenfalls für meinen Großvater teilgenommen.“

Robin am Mahnmal des Außenlagers Wilhelmshaven. © Jacques Sarête, 2017.
Die Pèlerinage nach Neuengamme hat mich sehr bereichert. Ich konnte Zeuge des umfangreichen Berichts meines Großvaters werden, der sich entwickelte, in den Überresten des ehemaligen KZ Neuengamme und in den Außenlagern, die wir besucht haben. Durch diesen mündlichen und visuellen Bericht konnte ich mich dem Thema der Deportationen nähern, die vorher für mich nur eine Gesamtheit von historischen Fakten, Zahlen und Bruchstücke von Berichten darstellte.
„An diesen Orten hatte ich das Gefühl, von Ernst und auch Traurigkeit erfüllt zu sein, die ich vorher noch nie empfunden hatte. Ich fühle mich gewachsen und ich möchte, dass die Geschichte meines Großvaters und die von Millionen weiterer Opfer der Deportation niemals vergessen werden. “
Übersetzt von Christine Eckel.