Die Tochter eines französischen Widerstandskämpfers hat eine Botschaft für alle jungen Europäer
19. Oktober 1943
Vor 72 Jahren änderte sich Yvonne Cossu-Albas Leben für immer. Sie war acht Jahre alt, als am 19. Oktober 1943 Mitglieder der Milizen des Vichy-Regimes zusammen mit Männern der Gestapo ihren Vater Robert Alba verhafteten. Er war der Anführer der Résistance auf der Halbinsel Crozon in der Bretagne. 18 Monate später starb Robert Alba im Auffanglager Sandbostel, wohin er mit 9000 anderen Häftlingen des KZ Neuengamme im April 1945 gebracht worden war.
Ängste, Vorurteile und eine Freundschaft
Nach dem Zweiten Weltkrieg hegte Yvonne über Jahrzehnte Vorbehalte gegenüber allem Deutschen. Als sie 13 Jahre alt war, weigerte sie sich sogar Deutsch in der Schule zu lernen:
Ich lehnte sofort die Möglichkeit ab, Deutsch zu lernen – es war undenkbar für mich. Die Menschen, die diese Sprache benutzten, hatten meinen Vater verhaftet, hatten ihn getötet. Ich hatte noch immer den harten Klang im Ohr aus der Zeit, in der sie in unserer Nähe im besetzten Schulhaus lebten […] Diese Entscheidung war sicher vom Verlust meines Vaters beeinflusst gewesen.
Nicht nur der Klang der Sprache, die diejenigen benutzt hatten, die ihrem Vater Leid zugefügt hatten, ließ sie zusammenzucken. Vielmehr war lange Zeit selbst der Gedanke das Land zu betreten, in dem ihr Vater getötet worden war, unvorstellbar. Während des Forums „Zukunft der Erinnerung“ im Mai 2015 in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme – 20 Jahre nach ihrem ersten Besuch in der Gedenkstätte – ist sie dennoch Hand in Hand mit einem deutschen Freund gegangen. Obwohl dieser Mann sich schon viele Jahre zuvor von seinem Vater, einem Nazi-Täter, distanziert hatte, wäre Yvonne wohl keinen Tag früher zu dieser Geste bereit gewesen.
Es war ein großer Schritt nach vorne für mich in Sachen Offenheit gegenüber anderen und ich bin dankbar dafür, dass die Gedenkstätte das Forum organisiert hat. Mit dem Forum hat die Gedenkstätte mir die Möglichkeit gegeben, über dieses Thema nachzudenken und die Dinge von einem anderen und weiteren Blickwinkel zu betrachten … Ich habe auch realisiert, wie viel Stärke und Mut Familien von Tätern brauchen, um sich gegen ihre Herkunft zu stellen.
Yvonne will nicht mehr in der Vergangenheit leben.
Keine Zukunft ohne Erinnern
Tatsächlich gilt Yvonnes Aufmerksamkeit heute vor allem der Zukunft. Zusammen mit Jean-Michel Gaussot, dessen Vater auch kurz vor der Befreiung der Konzentrationslager starb, arbeitet sie aktiv im Komitee „Erinnerung, Geschichte und Zukunft der Amicale française de Neuengamme et de ses Kommandos. 2009 veröffentlichte dieses Komitee ein Manifest, in dem sich die Mitglieder der Amicale u.a. erneut dazu verpflichten, den Kampf für die Freiheit, der von den Mitgliedern der Résistance begonnen wurde, fortzusetzen und das Anwachsen rechter Ideologien zu stoppen.
“Make love not war”
Es besorgt Yvonne, dass, obwohl Organisationen wie die Amicale zum Handeln aufrufen, Menschen überall auf der Welt ihre Augen vor Intoleranz, Rassismus und nationalen Gefühlen von Überlegenheit verschließen. Sie hofft, dass durch die Arbeit mit Schulkindern der Teufelskreis von mehr und mehr Kriegen gebrochen wird.
Wenn die jungen Menschen uns doch nur glauben würden, wenn wir ihnen erzählen, wie nutzlos Kriege sind, wie unheilvoll und wie gefährlich nationalistische Reden sind. Wenn wir doch nur zum Slogan der 1960er-Jahre zurückkehren könnten „make love not war”. Aber ich fühle mich so altmodisch, wenn ich das sage. Sie würden mich sicher auslachen.
In ihrer aufrichtigen Bescheidenheit unterschätzt Yvonne die Wirkung der Bücher, die sie über die Geschichte ihres Vaters und ihr Leben ohne ihn geschrieben hat. Durch Interdit d’oublier: mémoires de guerre d’une enfant de déporté-résistant (1997) und die überarbeitete und erweiterte Auflage Robert Alba: aller sans retour pour un camp nazi; Châteaulin, Neuengamme (2007) bekommen Leser einen Eindruck von Robert Alba, dem Ingenieur, der sein Wissen für den Kampf der Résistance einsetzte. Darüber ermöglichen die Bücher es Lesern, ein Verständnis für die andauernden Auswirkungen der Verbrechen der Nazis auf die Familien der Deportierten zu entwickeln.
Ein großartiger Vater
Wenn Yvonne von ihren schönsten Erinnerungen an ihren Vater berichtet, wird der Mann auf dem Foto mit dem kleinen Mädchen lebendig. Die Sonntage gehörten seiner Familie. Er, der das Arbeiten mit Holz so mochte, machte für Yvonne einen Schreibtisch und einen kleinen Schrank. Wenn er einige Stunden mit den Holzarbeiten zugebracht hatte, ging er mit seiner Familie ins Dorf, um Freunde zu treffen. Manchmal fuhren sie auch in die Natur, um Wildblumen und Pilze zu sammeln. Yvonne erinnert sich, dass er sich mit Pilzen gut auskannte und ihr die Merkmale der guten Sorten beibrachte.
Auf diesen Ausflügen erzählte mein Vater uns auch von seinen geliebten Pyrenäen. Er versprach mir, dass wir nach dem Krieg den Berg Cagire besteigen würden.
Robert Alba gab nicht nur seine Wertschätzung schöner Landschaften an seine Tochter weiter, sondern auch seine Liebe zur Musik. Yvonnes Großeltern, die in La Forêt-Fouesnant lebten, hatten einen Nachbarn, der Klavier in der Oper von Brüssel gespielt hatte. Zusammen mit einem anderen belgischen Flüchtling, der ein Amateurgeiger war, gab er Konzerte im kleinen Haus von Yvonnes Großeltern. Eins dieser Konzerte nimmt einen wichtigen Platz in Yvonnes Erinnerungen an ihren Vater ein.
Ich erinnere mich, dass wir an diesem Sonntag alle im besten Zimmer versammelt waren und ich auf dem Schoß meines Vaters saß. Unser Platz war ganz in der Nähe des Klaviers. Wir hörten ein Duo für Violine und Piano. Die Musik war so wunderschön, dass ich Gänsehaut bekam. Es war mein erstes musikalisches Empfinden. Es ist für mich mit der Person meines Vaters verbunden.
Der kleine Schrank, den Robert Alba für Yvonne gemacht hat, steht heute in Yvonnes Wohnzimmer. Sie bewahrt dort ihre schönsten Gläser auf. Ihr Schreibtisch steht weiterhin im Haus der Familie in der Bretagne. Dafür benutzt sie in ihrer Wohnung Robert Albas Schreibtisch. Robert Albas einziger persönlicher Besitz, den seine Familie aus Deutschland zurückbekommen hat, ist sein Ehering. Ihn trägt Yvonne an ihrer rechten Hand.
Der Traum eines Kindes
Yvonne und ihre Mutter, die nach Robert Albas Verhaftung sehr aneinander hingen, erfuhren vom Tod Robert Albas im Sommer 1945 von einem Doktor, der ihn kennengelernt hatte als sie beide Häftlinge des KZ Neuengamme waren.
Nach außen benahm Yvonne sich wie es von ihr erwartet wurde. Heimlich hoffe sie aber weiter, dass ihrem Vater die Flucht gelungen sei und er nun weit weg, vielleicht sogar in Russland, lebte. Im Rückblick glaubt Yvonne, dass sie durch das Verschweigen ihres Traums nicht die Wahrheit akzeptieren musste.
Ich denke, dass es damit zu tun hatte, dass er in einem Massengrab bestattet worden war und es kein Grab nur für ihn gab. Ich konnte deshalb nicht glauben, dass er Tod war. Kein sichtbares Zeichen und damit auch kein Tod.
Als sie schließlich akzeptiert hatte, dass ihr Vater tot war, musste Yvonne sich auch eingestehen, wie er gestorben war. Das Wissen um das, was ihr Vater hatte erleiden müssen, hat ihr Leben überschattet. Das Bild von der schrecklichen Behandlung, die zu seinem Tod geführt hat, kann sie nicht vergessen.
In einem Konzentrationslager der Nazis leiden zu müssen bedeutete am Ende den Tod. Es war wie eine langsame Hinrichtung.
Robert Albas Geschichte
Dr. Cornu hatte Robert Alba im Durchgangslager Compiègne kennengelernt. Während der gemeinsamen Zeit im KZ Neuengamme waren sie enge Freunde geworden. Zu Beginn des Jahres 1945 waren die beiden Männer für zwei Monate voneinander getrennt worden, da Robert Alba zur Arbeit in Hamburg geschickt wurde. Dr. Cornu blieb während dieser Zeit im Hauptlager. Sie trafen erst kurz vor Robert Albas Tod wieder auf einander. Zu diesem Zeitpunkt erkannte Dr. Cornu seinen Freund kaum wieder, da dieser bereits zum Skelett abgemagert war.
Yvonne ist Dr. Cornu dankbar, weil sie und ihre Familie durch ihn schnell über das, was ihr Vater im KZ Neuengamme hatte durchstehen müssen, informiert wurden. Manche ihrer Freunde haben hingegen nie erfahren, was mit ihren Vätern nach deren Verhaftung passiert war. Einige von ihnen hatten nicht einmal die Chance, ihre Väter kennenzulernen, weil sie noch nicht geboren worden waren als die Deutschen sie ihren Familien entrissen.
Jede Geschichte ist wichtig
Für die Familien von KZ-Häftlingen hat Yvonne einen wichtigen Rat:
Schreibt über Eure Verwandten! Selbst wenn Ihr denkt, dass Ihr es nur für Euch macht, mag es dennoch auch für die Öffentlichkeit hilfreich sein, diese Geschichte zu hören. Eure eigenen Erfahrungen, Eure Art zu denken und Fakten zu beschreiben können für andere Menschen erhellend sein. Jede Geschichte unterstützt uns dabei, die historische Wahrheit zu finden und sie wiederherzustellen. Sie kann bei jüngeren Menschen das Interesse an der Geschichte wecken und manche vielleicht dazu motivieren, mehr darüber erfahren zu wollen. Vielleicht entscheiden sie sich dann sogar, sich im Kampf gegen Rassismus und Faschismus zu engagieren
An die, die das Vermächtnis ihres Vaters und der anderen europäischen Widerstandskämpfer erfüllen möchten, appelliert sie, hoffnungsvoll zu bleiben. Sie wünscht ihnen Kraft, sich weiter für Frieden und Toleranz einsetzen zu können. Sie feuert sie an, nicht nachzulassen in ihren Bemühungen, andere davon zu überzeugen, sich ebenfalls für ihr Anliegen stark zu Machen.
Lasst uns die Menschen überzeugen, dass sie durch ihr gesellschaftliches Engagement die Welt besser machen können. Je mehr Menschen sich an der öffentlichen Diskussion beteiligen, umso größer ist unsere Chance, gehört zu werden.