Der Sohn eines ehemaligen Häftlings des KZ Dachau berichtet
Mein Vater, Dr. Karl Otto Watzinger, wurde 1913 geboren. Er wuchs mit zwei Geschwistern in einer bildungsbürgerlichen Familie in Tübingen auf. Sein Vater, Carl Watzinger, war Professor für Archäologie, seine Mutter hatte keine Berufsausbildung, beschäftigte sich gerne mit Literatur und Theater und war eine große Goethe-Verehrerin.
Mit Goethe konnte mein Vater nicht viel anfangen. Ihn interessierte die soziale und politische Lage in der Weimarer Republik. Außenminister Stresemann schätzte er sehr auf Grund dessen Überzeugung, Politik mit Verhandlungen zu betreiben.
1933 ging er aus dem, wie er sagte, „Professorennest“, Tübingen nach Berlin und studierte, als Grundlage für seine spätere politische Tätigkeit, Jura. Wegen Vorträgen über die innenpolitische Situation in Deutschland vor Exilanten der SAP (Sozialistische Arbeiterpartei) in der Schweiz und einem Aufsatz in der Exil-Zeitschrift „Maß und Wert“, in dem er sich kritisch mit der Nazi-Politik auseinandersetzte, wurde er 1939 verhaftet und zu zwei Jahren Gefängnis wegen Hochverrats verurteilt.
„Völlig rechtlos“
Direkt nach der Haftentlassung wurde er 1941 ins KZ Dachau verschleppt, wo er drei Jahre als politischer Häftling verbrachte. Er arbeitete in der Kleiderkammer. Im KZ fand er drei Freunde für´s Leben. Im Herbst 1944 nahm er mit vielen anderen politischen Häftlingen das Angebot an, sich an der Ostfront „zu bewähren“. In der SS-Division Dirlewanger kam er nach Ungarn, wo er bei erster Gelegenheit überlief und in russische Gefangenschaft kam.
Er sprach nicht gerne über seine KZ-Erfahrungen. Zwei Sätze sind mir in Erinnerung: „Anderen, den rassisch Verfolgten, ging es noch viel schlechter“ und „Ich habe erfahren, was es heißt, völlig rechtlos zu sein“. Details über die KZ-Zeit erfuhr ich erst später, u.a. aus der Biografie seines KZ-Freundes Friedl Volgger. Nach seiner Heimkehr 1945 hatte mein Vater eine schwere Depression, die u.a. mit Elektroschocks behandelt wurde. Anschließend war er in der Lage, seine Dissertation abzuschließen und sein juristisches Referendariat zu absolvieren, das er im Nazi-Unrechtsstaat nicht hatte antreten wollen.
Verlassen und verzweifelt
Meine Eltern heirateten 1954 und zogen im gleichen Jahr von Ulm nach Mannheim, wo mein Vater als Stadtsyndikus (Rechtsbeirat) der Stadt Mannheim, später Bürgermeister für Recht und Personal, eine neue Stelle antrat.
Geboren bin ich, Jörg Watzinger, 1955. Mein Bruder Ulrich ist drei, meine Schwester Doris sechs Jahre jünger. Ich hatte immer das Gefühl, dass ich in der Zeit nach meiner Geburt eine Erfahrung von Verlassenheit und tiefer Verzweiflung gemacht haben muss. Eine Erfahrung, dass ich das Wichtige sowieso nicht bekomme. In einer Familienaufstellung bei Diana Drexler (WISL) ließ sich ein plausibler Zusammenhang mit der KZ-Zeit meines Vaters herstellen.
Als Überlebender hatte er das Gefühl, dass er noch so viel für seine Leute, die Toten, tun müsse. Da war eine große, ungelebte Trauer. Er war emotional so verstrickt in dieser Geschichte, dass er für mich emotional nicht wirklich erreichbar war. Nach meiner Geburt kam mein Vater in eine schwere Depression. Er wurde arbeitsunfähig und war für einige Wochen in psychiatrischer Behandlung. Anschließend konnte er seinem Beruf mit großem Einsatz nachgehen. Erst nach der Pensionierung musste er noch zweimal wegen Depressionen in klinische Behandlung. In diesen Phasen kamen dann auch angstbesetzte Erinnerungen an die Zeit der Verfolgung und der KZ-Haft hoch.
„Verleumdung“
Als ich 17 Jahre alt war wurde mein Vater auf Grund seiner Zeit in der SS-Division Dirlewanger an der Ostfront als „SS-Mann an der Spitze der Stadtverwaltung Mannheim“ verleumdet. Der Gerichtsprozess zog sich vier Jahre hin, in dem mein Vater in allen Punkten rehabilitiert wurde. Ohne den Prozess hätte ich vielleicht nie von seiner KZ-Haft erfahren.
Immer mehr Erkenntnisse
In den 80er Jahren – nach der TV-Sendung „Shoah“ – kam das Thema nochmal hoch. Damals gab mein Vater ein Interview im SWR über seinen beruflichen Werdegang, in dem er auch über seiner Zeit im KZ Dachau sprach.*
Die KZ-Zeit meines Vaters habe ich erst nach seinem Tod 2006 erforscht über Briefe, Bücher und Besuche in der KZ-Gedenkstätte Dachau. Auch meine Geschwister besuchten die Gedenkstätte erst nach seinem Tod. Den ersten Besuch unternahm ich mit meiner Frau. Ich wollte herausfinden, was sich hinter der grauen Wand mit der Aufschrift „Mein Vater war im KZ“ befindet. Zwei Jahre später war ich noch einmal mit einem Freund dort, um die Akte meines Vaters einzusehen.
Gedenken – privat und öffentlich
Für mich ist es wichtig, dass es die KZ-Gedenkstätte Dachau gibt. Dass ich den realen Ort, an dem mein Vater drei Jahre „völlig ohne Rechte“ inhaftiert war, besuchen kann und dass ich dort Informationen über die Wirklichkeit im KZ erhalten kann. Für mich ist es auch ein Ort der gesellschaftlichen Anerkennung, dass es diese Zeit gegeben hat.
Vor meinem ersten Besuch in der KZ-Gedenkstätte Dachau hatte ich aus im Familienarchiv erhaltenen Briefen ein Lebensbild der Mutter meines Vaters zusammengestellt. Sie war über die KZ-Verschleppung meines Vaters so verzweifelt, dass sie die drei Jahre, die mein Vater im KZ Dachau inhaftiert war, zum großen Teil in der Psychiatrie in Göppingen verbracht hat, wo sie im April 1945 starb.
Über den Bruder meiner Mutter, der als 21-jähriger als Soldat seit Januar 1943 in Stalingrad vermisst wurde, habe ich die im Familienarchiv vorhandenen Briefe und Unterlagen gelesen. Er stand meiner Mutter sehr nahe, so dass sie mir dessen Namen Jörg Dietrich gab.
Im Austausch mit meinen Geschwistern als auch mit meiner Familie ist die KZ-Haft meines Vaters präsent und wir sprechen darüber, wenn es sich ergibt. Seit 20 Jahren lebe ich mit meiner Familie in Schwetzingen. Unsere beiden Söhne sind in Ausbildung und Studium.
Politisches Erbe
Es gibt bei uns kein Gedenken in einem rituellen Sinn. In der Erinnerung an meinen Vater ist eher sein Engagement für ein demokratisches Deutschland, für respektvollen Umgang miteinander unabhängig von Status und Herkunft und für Bildungschancen für alle im Vordergrund. Er bot bis ins hohe Alter Führungen über den jüdischen Friedhof in Mannheim an und hat im Ruhestand zwei Bücher über die Geschichte der Juden in Mannheim veröffentlicht.
Mein Vater war lange Jahre Mitglied und zeitweise Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit in Mannheim. In ihrer Traueranzeige zum Tod meines Vaters schrieb die jüdische Gemeinde Mannheim: „Wir haben einen verlässlichen Freund verloren“.
Angekommen sein
Nach der biografischen Erkundung habe ich auf Anregung des Dachauer Psychologen Dr. Müller-Hohagen begonnen, mich in die KZ- und NS-Geschichte einzulesen. Dann kam der Austausch mit anderen Nachkommen, der mir viel bedeutet. Es ist etwas Anderes, über die Schicksale der NS-Verfolgten zu lesen oder mit Menschen an einem Tisch zu sitzen, die ihre Geschichte erzählen. Das ist ein Stück Dazugehören und Ankommen. Ein weiterer positiver Effekt ist, dass die eigene Geschichte und der Umgang mit ihr im Vergleich mit den Geschichten der anderen klarer und differenzierter werden. Nach der Phase der biografischen und historischen Klärung steht jetzt das Thema „transgenerationale Traumatisierung“ für mich im Vordergrund. Die Fragen, welche psychischen Folgen hatte die KZ Haft für meinen Vater und welche Folgen hatte das für mich? Der Austausch mit anderen über die Fragen, welche therapeutischen Optionen es gibt und was dem einzelnen geholfen hat, kann wichtige Anregungen geben.
Begegnungen
Im Sommer 2016 besuchte ich die Tochter des KZ-Freundes Friedl Volgger, mit dem mein Vater sein Leben lang befreundet blieb. Wir hatten einen sehr offenen Austausch. Im April 2017 nahm ich an einem Initiativtreffen in Nürnberg teil. Wir waren acht Nachkommen von NS-Verfolgten. Diese Gruppe trifft sich im Oktober 2017 wieder in München. Im Mai 2017 nahm ich am Forum „Zukunft der Erinnerung“ in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme teil. Im September nahm ich in Köln am Regionaltreffen des Bundesverbands für Information und Beratung für NS-Verfolgte teil. Für April 2018 ist ein erstes Treffen geplant für Nachkommen, deren Vorfahren im KZ Dachau inhaftiert waren.
Das große Ganze sehen
Es ist gut, sich mit der Geschichte der eigenen Familie während der Nazi Zeit biografisch/historisch zu beschäftigen. Wie haben sie sich die einzelnen Verwandten verhalten unter dem Druck der Diktatur? Welche Verluste haben sie erlitten? Wie sind sie mit ihrer Vergangenheit umgegangen? Bei dieser Beschäftigung hat sich mein Blick vom meinem Ausgangspunkt der politischen Verfolgung auf die weiteren Folgen der NS-Politik wie rassische Verfolgung, schwarze Pädagogik, Krieg, Zwangsarbeit, Flucht und Vertreibung erweitert.
Es ist gut, den emotionalen Auswirkungen der Nazi Zeit auf die Eltern/Verwandten nachzugehen, und im nächsten Schritt den emotionalen Auswirkungen auf das eigene Leben. Mir hat eine Familienaufstellung in dieser Richtung viel gebracht.
Es ist gut, den Austausch mit anderen Nachkommen aufzunehmen, und dabei über die individuelle biografische Geschichte hinauszugehen.
Literaturempfehlungen
Volgger, Friedl – Mit Südtirol am Scheideweg
Müller-Hohagen, Jürgen – Verleugnet, verdrängt, verschwiegen
Naujoks, Harry – Mein Leben im KZ Sachsenhausen
Kertesz, Imre – Roman eines Schicksallosen
Wiesel , Elie – Alle Flüsse fließen ins Meer
Lagergemeinschaft Ravensbrück (Hrsg.) – Kinder von KZ-Häftlingen
Wolf, Anke, Rebentisch, Jost, Fehlberg, Thorsten (Hrsg.) – Nachkommen von NS-Verfolgten – Herausforderungen und Perspektiven
Kogan, Ilany – Der stumme Schrei der Kinder
Bode, Sabine – Kriegskinder, Nachkriegsgeneration, Kriegsenkel
*Bei Interesse gebe ich gerne Zugriff auf die Audiodatei. E-Mail-Anfragen bitte an info@rfhabnc.org.*
Zum Weiterhören: Im Rahmen eines Projekts des Bundesverbands Information & Beratung für NS-Verfolgte e.V. enstand ein Audio-Interview mit Jörg Watzinger, das Sie sich hier anhören können.