Es gibt sicher Archivare, die Besucher als Störenfriede sehen. Wir aber freuen uns über sie!
So beschreibt Dr. Reimer Möller, Leiter des Archivs der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, seine Arbeit. Tatsächlich kommen immer mehr Angehörige ehemaliger Häftlinge des KZ-Neuengamme mit Rechercheanfragen zu ihm. Im Jahr 2013 waren es bereits 2987 Anfragen.
Seit es auf der Homepage der Gedenkstätte ein Formular gibt, mit dem Anfragen an das Archiv gestellt werden können, ist ein besonders deutlicher Anstieg zu verzeichnen. Jede Anfrage ist anders. Manche Angehörige fangen gerade erst an, sich mit der Geschichte ihrer Verwandten zu beschäftigen. Teilweise sammeln sie sogar zum ersten Mal Erfahrungen mit der Arbeit eines Archivs. Andere, so Dr. Möller, seien veritable Experten, „von denen wir sogar noch neue Informationen erhalten“. Die Enkelkinder seien häufig besonders an den Details interessiert und wünschten sich Kopien oder Scans der einzelnen Quellen.
Dr. Möller und seine Mitarbeiterin Frau Alyn Beßmann haben sich das Ziel gesetzt, keine Anfrage länger als 10 Tage unbeantwortet zu lassen. Außer den beiden Archivaren kümmert sich nur noch eine studentische Mitarbeiterin um die Anfragen. Das bedeutet: „Egal wie fleißig wir sind, wir kommen nicht nach.“ Anstatt bei der Fülle von Anfragen zu resignieren, verbessert Dr. Möller lieber die Arbeitsabläufe. So werden die Informationen aus dem Anfrageformular mittlerweile direkt in die Datenbank eingespeist. Die Arbeit wird so effizienter und die Auskünfte über die Häftlinge gewinnen an Qualität. Wird Dr. Möller vor die Wahl gestellt, einen wissenschaftlichen Artikel zu verfassen oder eine neue Anfrage eines Angehörigen zu beantworten, fällt die Antwort eindeutig aus. Mancher Artikel ist auch schon ungeschrieben geblieben. Dr. Möller betont:
Wir sind die mit den Kontakten. Das ist unsere Aufgabe.
Nein, ein „Datenbank-Technokrat“, da hat Dr. Möller Recht, ist er nicht. Gut machen will er seine Arbeit nicht ihrer selbst wegen, sondern um an die ehemaligen Häftlinge zu erinnern. Dazu gehört für ihn auch, sein Wissen mit den Angehörigen zu teilen, ungeschönt, aber auch ohne Spekulationen.
Es gibt Angehörige, die in regelmäßigen Abständen Dr. Möller besuchen, auch ohne nach neuen Informationen zu fragen. Für sie ist Dr. Möller dann „Seelsorger“. In diesen Trauergesprächen geht es häufig um die Situation in den Außenlagern. Am Anfang war das noch ungewohnt für Dr. Möller, doch mittlerweile versteht er, dass das Gespräch mit ihm einem Besuch auf dem Friedhof gleichkommt. „Auf einen Friedhof geht man schließlich auch nicht, um Antworten zu finden“, stellt er fest und fügt hinzu, dass er viel Empathie für die Angehörigen empfinde.
Für die Angehörigen ehemaliger Häftlinge ist der Eintrag in die Datenbank wie ein Grabstein. Deshalb ist es auch verständlich, wenn Angehörige enttäuscht sind, wenn es keinen Eintrag gibt oder der Name nicht korrekt geschrieben ist.
Besonders freut sich Dr. Möller, wenn Angehörige Briefe, Fotos oder Gegenstände der ehemaligen Häftlinge auf ihren Besuchen mitbringen. So wird der Mensch mit seiner persönlichen Geschichte erkennbar. Mittlerweile haben Dr. Möller und sein Team zu 2200 ehemaligen Häftlingen so viele Details recherchiert, dass zu ihnen eine umfassende Biographie vorhanden ist.
Insgesamt sind nur drei Viertel der ehemaligen Häftlinge des KZ Neuengamme und seiner Außenlager erfasst. Das ist für Dr. Möller immer wieder Anlass für Kritik. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Geschichte des Konzentrationslagers Neuengamme habe einfach zu spät eingesetzt.
Umso dankbarer ist Dr. Möller, dass die Überlebenden nach der Befreiung schnell begonnen hatten, Informationen zu sammeln. Gerade auch die Gedenkbücher aus dem Ausland, insbesondere aus den Niederlanden und Frankreich, sieht Dr. Möller als wichtige Quelle an. Selbst aus den wenigen Dokumenten, die aus Täter-Hand stammen und nicht zum Verwischen von Beweisen zerstört wurden, können grundlegende Informationen entnommen werden. Es handelt sich dabei um die Sterberegistereinträge aus dem „Sonderstandesamt A“ des KZ Neuengamme, einem Teil der Totenbücher aus dem Krankenrevier und Karteikarten aus dem SS-Wirtschafts-Verwaltungshauptamt in Oranienburg.
Selbst wenn Dr. Möller nur wenige Informationen zu ehemaligen Häftlingen mit ihren Angehörigen teilen kann, zeigen die meisten Besucher große Dankbarkeit und drücken die Wertschätzung für die Arbeit des Archivs aus. Gerade weil es so viel positive Resonanz gibt, erinnert sich Dr. Möller auch an die wenigen Situationen, in der sich Angehörige abweisend verhalten. „Ich bin in diesen Momenten der Deutsche, der am Ort der Verbrechen den Menschen erklären muss, was ihren Verwandten von Deutschen angetan wurde“, entschuldigt er es, dass manche Angehörige zögern, ihm die Hand zu schütteln. Dennoch, oder gerade deswegen, ist Dr. Möller sich sicher:
Unsere Arbeit dient dem Frieden in der Welt.
Es sind jedoch nicht mehr nur Angehörige ehemaliger Häftlinge, die sich an Dr. Möller mit Rechercheanfragen wenden. Schülerinnen und Schüler, die in einer Projektarbeit das Schicksal einzelner Häftlinge darstellen möchten, z.B. für den Geschichtswettbewerb des Bundespräsidenten, erhalten von ihm genauso Unterstützung und Zugang zu den Unterlagen wie Journalisten und Filmemacher. Es kommen aber auch immer mehr Besucher zu ihm, die ihre Angehörigen auf der Täterseite vermuten. Für sie bietet Dr. Möller nun in Zusammenarbeit mit dem Studienzentrum und der Bibliothek der Gedenkstätte das Recherche-Seminar „Ein Täter, Mitläufer, Zuschauer, Opfer in der Familie?“ an. Bei diesen Begegnungen muss Dr. Möller häufig mitgebrachte Fotos kommentieren. Hierbei ist es auch schon vorgekommen, dass er die schlimmen Vermutungen der Kinder und Enkelkinder zerstreuen konnte.
Dort, wo es aber stichfeste Beweise gibt gegen die Täter, will Dr. Möller nichts verdeckt wissen. Seit der Hamburger Datenschutzbeauftragte feststellte, dass in der Studienausstellung zur Lager SS mehr persönliche Daten der Täter geschützt wurden als nötig, hat Dr. Möller begonnen geschwärzte Stellen freizulegen.
Bei seiner Arbeit geht es um die Wahrheit, darum sie dort offenzulegen, wo die Täter sie gerne verborgen sehen würden, und sie mit denen zu teilen, die die Erinnerung an die Häftlinge wachhalten wollen.