Diese Frage bewegt die Hamburger Studentin Nicola Iversen schon eine ganze Weile. Im Rahmen des Projekts „Welcher Film spielt denn hier? Macht (eure) Geschichte zum Film!“ nähert sie sich nun behutsam diesem schwierigen Thema. Ihre Sorgen, Gedanken und Gefühle hat sie im folgenden Artikel in Worte gefasst.
Ich trau mich nicht
Meine Großeltern im Jahr 1945 und ich im Jahr 2015 haben etwas gemeinsam. Wir sind ungefähr gleich alt. Wir beginnen unser eigenes, selbstbestimmtes Leben. Wir beginnen zu arbeiten oder zu studieren. Aber meine Großeltern haben ihre Jugend bis zu diesem Zeitpunkt in einem Land verbracht, von dem ich heute im Geschichtsunterricht lerne. In einer Gesellschaft, die unvorstellbare Verbrechen verübt hat, so furchtbar, dass ich mich sprachlos fühle, wenn ich von ihnen lese. Und auch meinen Großeltern sind in dieser Zeit schreckliche Dinge widerfahren, Krieg, Angst und Zerstörung.
Heute ist 2015. Meine beiden Großmütter leben und es geht ihnen gut, trotz mittlerweile sehr hohem Alter. Wir haben ein enges Verhältnis. Meine Großväter sind beide bereits verstorben. Von einer Großmutter wohne ich nur 5 Minuten entfernt. Wir unterhalten uns oft, über Kunst, über unsere Leben, über Politik. Manchmal erzählen meine Großmütter auch von früher, von ihrer Kindheit, von ihrer Jugend.
Sie erzählen und ich höre zu
Ich höre zu, aber ich frage nicht nach. Ich speichere, was sie mir erzählen und versuche, es aneinander zu reihen. Versuche Antworten auf Fragen zu bekommen, ohne Fragen zu müssen. Ich weiß nicht, warum mir die Fragen so oft im Hals stecken bleiben. Meine Großmütter geben mir nicht das Gefühl, dass es „Tabuthemen“ gibt. Frage ich sie nach ihrem Leben während dieser Zeit, antworten sie mir. Als ich meine Großmutter nach Fotos für unser Filmprojekt fragte, hat sie mir sofort einen großen Stapel in die Hand gedrückt. Ich habe auch nicht das Gefühl, dass sie wissentlich große Zeitspannen aussparen oder Themen unterdrücken. Ich habe nicht das Gefühl dieses „großen Schweigens“, von dem einige Menschen aus ihrer Familie berichten.
Aber trotzdem. Meine Aufgabe dabei, den Teil mit meinen Nachfragen, den kriege ich einfach nicht so richtig hin. Vielleicht mal so eine halbe, genuschelte Frage, deren Antwort ich dann schnell abnicke. Ich möchte hier meinen Anteil an der „Fragenlosigkeit“ nicht kleinreden. Ich bin leider ein Mensch, der eine in seinen Augen eventuell unangenehme Frage eher nicht stellt, als erstmal eine Reaktion abzuwarten.
Wie soll sie mir berichten, wenn ich sie nicht frage?
Ich habe zum Beispiel meine Großmütter noch nie deutlich gefragt, was sie darüber gedacht haben, dass ihre Mitmenschen ausgegrenzt, verfolgt, deportiert und ermordet wurden. Ob sie an die Vorstellungen der Nazis von „Ariern“, von „Herrenmenschen“ geglaubt haben? Ob sie sich über den Krieg und die Erfolge der deutschen Wehrmacht gefreut haben bevor der Krieg auch nach Deutschland kam? Und wie sich ihre Weltsicht nach 1945 verändert hat?
Vielleicht ist das Problem, dass ich irgendwie hoffe, meinen Großeltern durch Nachfragen noch mehr kennenzulernen, ihnen noch näher zu kommen. Schließlich fühlt man sich oft Menschen näher, wenn man persönliche Geschichten von ihnen hört. Aber genau dieses Näherkommen kann für mich gleichzeitig auch bedeuten, dass ich vor dem zurückschrecke, was sie erzählen. Eventuell ist das auch der Grund, warum es Menschen in meiner Generation gibt, die meinen, die Nachfragen und die Beschäftigung mit damals müsste nicht mehr sein. Denn ich weiß, meine Großeltern und Urgroßeltern waren größtenteils keine Helden und auch keine Widerständler. Der Blick zurück birgt die Enttäuschung, das Entsetzen und das Unverständnis und ist es nicht so viel einfacher, ihn nach vorne zu richten?
Normen und Werte
Ist es für mich nicht. Nur weil man Dinge nicht sehen möchte, heißt das nicht, dass sie nicht existieren. Ich denke, ich stehe nicht alleine da mit gelegentlichen Irritationen über die Ansichten meiner Großmütter. Ich habe das früher auf unseren großen Altersunterschied geschoben. Aber seit ich Soziologie studiere und mich mit Sozialisation und dem Einfluss der Gesellschaft beschäftige, frage ich mich in solchen Momenten, wie meine Großeltern in ihrer Jugend sozialisiert worden sind? Mit welchen Normen und Wertevorstellungen sie damals großgeworden sind, nicht nur in der Schule, sondern auch in ihren Familien? Und inwieweit diese auch heute noch in ihnen nachwirken? In solchen Irritationsmomenten wird mir deutlicher als sonst, dass ich vieles nicht weiß. Weil ich es nie gefragt habe.
Es geht hier auch um mich
Ich weiß, dass es auf viele meiner Fragen keine Antworten geben wird. Erlebnisse werden vergessen, Erinnerungen werden über die Zeit verändert. Es gibt vielleicht Einflüsse von damals, die meinen Großmüttern selbst nicht klar sind. Oder ihre Antworten werden mir vielleicht nicht reichen, sie werden mich nicht zufriedenstellen.
Aber darum geht es nicht. Es geht hier schließlich um mich. Um meinen Anteil, nicht um ihren. Und ich möchte fragen. Auch wenn es mir schwerfällt. Auch wenn es mir manchmal unangenehm ist. Ich möchte nachfragen und erfahren. Das bedeutet nicht, dass ich keine persönliche Grenze mehr bei mir anerkennen will. Aber um diese zu finden, muss ich erst beginnen.