Seit Jahren beschäftige ich mich mit meiner Familiengeschichte und in diesem Zusammenhang habe ich viele Stunden Nachforschungen in diversen Archiven betrieben und mich in allerlei Dokumente und Fotos vertieft. Und dabei wurde natürlich auch mein Vater Jules Thema. Während des Zweiten Weltkrieges arbeitete mein Vater bei der OIP (“Société Belge d’Optique et d’Instruments de Précision”) in Gent, einer Firma, die optische Geräte für das belgische Militär herstellte. Im Mai 1944 wurde der Betrieb durch die Firma Heyde Werke aus Bremen/Deutschland „besetzt“. Höchstwahrscheinlich deswegen schloss er sich einer Widerstandsgruppe an, die sich im Betrieb der OIP gebildet hatte, die “Verzetsgroep Bedrijfsmilitie, Patriottische Militie, Vaderlandse Milities aangesloten bij het Onafhankelijkheidsfront (O.F.)”. Die Gruppe bestand aus 10 Kollegen aus der Firma. Sie betrieben Sabotage oder verlangsamten die Produktion der optischen Geräte, die für die deutsche Luftwaffe bestimmt waren. Am 12. August 1944 wurde mein Vater zusammen mit sieben Kollegen (offenbar konnten zwei flüchten) im Betrieb der OIP durch die Geheime Feldpolizei verhaftet und im Gefängnis Nieuwewandeling in Gent inhaftiert. Später erfuhren wir, dass alle Gefangenen am 30. August 1944 nach Antwerpen verbracht wurden und dann per Zug nach Deutschland transportiert wurden. Nachbarn sollen meinen Vater auf einem der LKWs gesehen haben, die bei dem Transport von Gent nach Antwerpen über die N70 offenbar auf nur 100 Meter Abstand an unserem Haus vorbei fuhren. Das war das letzte, was wir damals von meinem Vater hörten.
Während seiner Zeit im Gefängnis Nieuwewandeling in Gent saß mein Vater zusammen mit dem Rektor des Gymnasiums in Melle in einer Zelle. Dieser Mann, Pater Stanislas, wurde entlassen und hat über einen ehemaligen Schüler meiner Mutter eine handgeschriebene Nachricht meines Vaters zustellen lassen. Der Pater hat sie irgendwie aus dem Gefängnis rausgeschmuggelt. Dieses „kleine Stück Papier“ ist für mich Gold wert!
Die Suche geht weiter
Viele Jahre später habe ich mich dann darangemacht, mich weiter mit meinem bereits bestehenden Archiv über meinen Vater Jules zu beschäftigen. Zum Glück hatte meine Mutter all die Jahre nach dem Tod meines Vaters zwei Kartons mit Dokumenten, Fotos, usw. aufbewahrt.
Ende 2007 nahm ich dann Kontakt mit dem Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme auf. Ich fragte an, ob sie mir möglicherweise Informationen darüber verschaffen könnten, wo mein Vater begraben liegt. Am 11.1.2008 bekam ich eine E-Mail mit der Information, dass mein Vater “in einem Sammelgrab auf dem Vorwerker Friedhof in Lübeck begraben liegt”. Das Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme hat dann selbst noch die Verbindung mit dem Stadtarchiv von Lübeck aufgenommen. Im März 2008 bekam ich dann eine zweite E-Mail vom Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. Darin steht, dass das Stadtarchiv Lübeck bestätigt, dass mein Vater “dem 28.04.1945 im Sammelgrab 27a-5-D auf dem Vorwerker Friedhof in Lübeck begraben wurde”.
Im November 2009 habe ich dann auch Kontakt mit dem ITS (International Tracing Service) in Bad Arolsen/Deutschland aufgenommen, wieder mit der Frage ob sie mehr Informationen haben über meinen Vater und den Ort, wo er möglicherweise begraben ist. Aus ihrer Antwort geht hervor, dass es auch dazu keine weiteren Informationen gab, nur den Vermerk „unknown male identification” und die Bestätigung, dass mein Vater die Häftlingsnummer 44935 hatte. Außerdem ist auch noch vermerkt, dass diese Häftlingsnummer meinem Vater am 2. und 3. September 1944 zugeteilt wurde.
Als ich dann weiter suchte, kam ich in Kontakt mit einem Verband der politischen Gefangenen, dem NCPGR (Nationale Confederatie van Politieke Gevangenen en Rechthebbenden) Bezirk Gent-Eeklo. Vom Sekretariat der NCPGR bekam ich interessante Informationen über den Weg, den die 8 Arbeitskollegen der OIP zurückgelegt haben. Es sind nämlich zwei der Kollegen wieder nach Belgien zurückgekehrt; die anderen sechs sind alle in Deutschland in der Gefangenschaft gestorben. Einer der beiden Überlebenden hatte bei seiner Rückkehr nach Belgien detailliert und vollständig aufgeschrieben, wie der Weg war, den die acht Kameraden durchgemacht hatten. Aus diesem Bericht wird deutlich: vom 2. September 1944 bis zum 5. September 1944 war mein Vater im KZ-Neuengamme in Hamburg inhaftiert. Am 5. und 6. September 1944 wurden sie per Zug ins Außenlager Blumenthal bei Bremen transportiert. Mein Vater war vom 6. September 1944 bis zum 9. April 1945 im Lager Blumenthal in Haft. Dort musste er beim Bau des Bunkers Valentin und bei Betrieben in der näheren Umgebung arbeiten. Vom 9. April bis zum 15. April 1945 mussten die Häftlinge das Lager Blumenthal verlassen und zu Fuß zurück zum Hauptlager Neuengamme (Todesmarsch). Vom 15. April bis zum 19. April 1945 war mein Vater dann wieder in Neuengamme inhaftiert. Dann wurden sie per Zug nach Lübeck transportiert. Das dauerte vom 19. bis zum 21. April. Vom 21. bis zum 23. April war mein Vater an Bord der “Cap Arcona” im Hafen von Lübeck und dann auf der „Athen“ in der Ostsee.
Am 23. April 1945 ist mein Vater dann auf der „Athen“ an völliger Entkräftung in den Armen seiner zwei da noch lebenden Kollegen Alfons De Vlieger und Willy Dekeghel verstorben. Die anderen 5 Kollegen waren bereits vorher in Sandbostel, Blumenthal oder in der Lübecker Bucht verstorben.
Später haben die beiden nach Belgien zurückgekehrten Arbeitskollegen eine eidliche Erklärung über den Tod meines Vaters unterzeichnet. Hier steht nun amtlich bestätigt, dass mein Vater in ihren Armen auf der „Athen“ verstorben ist.
Etwas später hat einer der beiden noch eine Erklärung abgegeben, dass der Leichnam meines Vaters “über Bord geworfen wurde.”
Letztendlich sitze ich mit der offenen Frage: „Wo ist der Leichnam meines Vaters geblieben?“. Mit Sicherheit weiß ich, dass er auf der „Athen“ gestorben ist und ins Meer geworfen wurde. Unklar ist, ob sein Leichnam auf See geblieben ist oder später, nach dem die Alliierten die Schiffe in der Lübecker Bucht bombardiert hatten, zusammen mit den Tausenden anderen Toten aus dem Wasser geborgen und in einem „Sammelgrab“ auf dem Vorwerker Friedhof in Lübeck begraben wurde.
Gedenkstättenbesuch in Deutschland
Im Mai 2018 haben meine Ehefrau und ich an der jährlichen Pilgerfahrt nach Neuengamme teilgenommen, die der Vriendenkring Neuengamme België organisiert. Dabei haben wir u. a. die KZ-Gedenkstätte Neuengamme besucht.
Zwischen all den Tausenden anderen Verstorbenen steht da der Name meines Vaters. Mit der Hilfe von anderen Teilnehmern der Pilgerfahrt, die schon mehrmals das Haus des Gedenkens besucht hatten, konnte der Name meines Vaters schnell gefunden werden.
Einer der Orte, die wir besuchten, war der Bunker Valentin. Zufällig war da Radio Bremen gerade vor Ort. Sie haben dann gleich ein Interview mit mir und meiner Frau aufgenommen. Radio Bremen hat mir denn freundlicherweise eine Kopie des Interviews überlassen.
Wir waren dann noch auf dem Vorwerker Friedhof in Lübeck und haben da das Sammelgrab 27a-5-D besucht.
Schließlich haben wir auch das Denkmal am ehemaligen Lager Blumenthal besucht.
Stolpersteine
Am 6. März 2019 wurden auf Initiative des NCPGR Bezirks Gent-Eeklo in Gent 20 Stolpersteine für die verstorbenen Widerstandskämpfer verlegt. Sechs davon waren für die verstorbenen Kameraden von der OIP.
Die sechs Steine wurden an der Meersstraat 138 in Gent verlegt, dem früheren Firmensitz der OIP. Einer der sechs Steine ist meinem Vater gewidmet.
Jules Matthys und “Die 8 von der OIP”
Im Juni 2019 habe ich ein Buch mit der Geschichte meines Vaters und seiner Kollegen geschrieben. Ich fand es angemessen, ihm den Titel “Jules Matthys en de 8 van OIP” (“Jules Matthys und die 8 von der OIP”) zu geben.
In verschiedenen Archiven und Bibliotheken ist jeweils ein Exemplar davon vorhanden, so im Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme und in dem des Bunkers Valentin.
Außerdem gibt es im Internet auf der Seite Spurensuche Bremen einen Link, den John Gerardu aus Bremen erstellt hat.